Die Hadithwissenschaften

Die Hadithwissenschaften sind ein reichhaltiger Wissenschaftsbereich mit sehr vielen Unterdisziplinen. Aus diesem Grund ist es nützlich, hier - ohne nach den Wissenschaften der Hadithtexte oder der Überlieferungskette (der Hadith) zu unterscheiden - einige der gesonderten, vom Inhalt her sehr umfangreichen Forschungsbereiche der Hadithwissenschaften kurz vorzustellen.

Sababu´l-wurud

Diese Wissenschaft versucht, die Entstehungsgründe der Hadith festzustellen. Der Gegenstand dieses Wissenschaftszweiges ist es, herauszufinden, warum und unter welchen Umständen die Hadith vom Propheten geäußert wurden. So notwendig wie die Kenntnis der Offenbarungsgründe (sababu´n-nuzul) der Koranverse für deren Verstehen ist, so erforderlich und nützlich ist auch die Kenntnis der Entstehungsgründe (Wurud-Gründe) der Hadith für das Verstehen und Interpretieren dieser Hadith.

Dieser Wissenschaftszweig befasst sich auch mit der Chronologie der Hadith.

Manchmal befindet sich der Entstehungsgrund eines Hadith in dessen Text selbst. Manchmal aber ist dieser nicht im Text enthalten, sondern er kann in einer der verschiedenen Überlieferungsvarianten des Hadith vorzufinden sein. Der Entstehungsgrund der unter dem Namen Hadith der Absicht (türk. Niyet Hadisi) bekannten Überlieferung, in welcher der Prophet erklärt, dass die Taten eines Menschen unter Berücksichtigung der ihnen vorausgehenden Absicht bewertet werden, wurde auf einem solchen Wege der Überlieferung festgestellt. Durch das betreffende Hadith wird ersichtlich, dass der Prophet zur Situation eines nach Medina zugewanderten Mannes befragt wurde, der die Absicht hatte, eine Frau aus Medina namens Ummu Kais zu heiraten.

Zu diesem Thema hat Suyuti (911 H /1505 n. Chr.) ein Werk mit dem Titel al-Luma´ geschrieben.

Der unter dem Namen Ibn Hamza berühmte Ibrahim b. Muhammad ad-Dimaschqi (1120/1708) hat das umfassendste Werk zu diesem Gegenstand mit dem Titel al-Bayan wa´t-Tarif fi asbabi wurudi´l-Hadithi´s-Scharif verfasst.

Gharib al-Hadith

Die Forschung über die Gharib al-Hadith beschäftigt sich mit der Erklärung von fremden, seltsamen, selten vorkommenden und deshalb schwer verständlichen Wörtern in den Hadith. Diese Wissenschaft kann man auch als eine Art „Wörterbuch für Hadith“ verstehen. Sie hilft uns, schwer verständliche Seiten der Hadith zu erklären.

Da diese Disziplin sehr wichtig ist, legten islamische Gelehrte großen Wert auf diesen Wissenschaftszweig. Ahmad b. Hanbal pflegte bei Fragen zu selten vorkommenden Wörtern Folgendes zu sagen: „Gehen Sie und fragen Sie dies den Gharibu´l-Hadith-Gelehrten. Ich habe es nicht gern, mich auf Vermutungen stützend Erklärungen zu machen und dabei Fehler zu begehen“, und wies damit auf das notwendige Fachwissen dieser Disziplin hin.

Der Verfasser eines Werkes über die Gharib al-Hadith war Abu Ubaid Qasim bin Sallam (224/839). Er wies mit seinen Worten: „Ich habe mein Buch in vierzig Jahren geschrieben. Es ist mein Lebenswerk“, auf die Bedeutung hin, die er diesem Thema beigemessen hatte.

Auch wenn es klein und zusammengefasst ist, hat Abu Ubaida Mamar b. al-Musanna (210/825) doch das erste Werk zu dieser Disziplin verfasst. Später hat Abu Ubaid Qasim bin Sallam (224/839) sein bereits erwähntes berühmtes Werk Gharibu´l-Hadith geschrieben, dem Ibn Qutaiba (276/889) gefolgt ist. Später hat Zamahschari das Werk al-Faik fi gharibi´l-Hadith verfasst. Ibn al-Asir schrieb zu diesem Thema sein berühmtes Werk an-Nihaya fi gharibi´l-Hadith.

Ilal al-Hadith

Dieser Forschungszweig beschäftigt sich mit äußerlich betrachtet authentisch (sahih) aussehenden Hadith, welche nur von Fachwissenschaftlern erkennbare geheime Mängel enthalten, wodurch die Authentizität des Hadith verletzt wird. Diese geheimen Mängel können in der Überlieferungskette, im Hadithtext selbst oder in beiden zugleich vorzufinden sein. Auf den Einwand: „Du akzeptierst ein Hadith als authentisch, ein anderes verwirfst du. Worauf oder auf wen berufst du dich dabei?“ antwortete Abdurrahman Ibnu´l-Mahdi:

"Sage mir bitte, wenn du eine silberne Münze einem Silberschmied zeigst und er dir sagt: ’die Münze ist pures Silber‘ oder ‚die Münze ist nur versilbert‘! Würdest du ihn dann fragen: ‚Woher weißt du das?‘ Oder würdest du das, was er sagt, akzeptieren? Diese Kenntnis der Hadith beruht auf dem Ergebnis einer langwierigen Beschäftigung, einer Begabung, Kunst, Fähigkeit und Spezialisierung auf diesem Thema."

Ali b. al-Madini (234/848), Ahmad b. Hanbal (241/855), Darakutni (375/985), Hakim an-Nayschaburi (405/1014) und Ibnu´l-Dschawzi (597/1200) haben Werke zu diesem Wissenschaftszweig verfasst.

Mukhtalif al-Hadith

Dies ist eine Disziplin, die sich mit festgestellten Unstimmigkeiten in der Bedeutung von Hadith beschäftigt. Ein bestimmter Teil der Widersprüche kann von vereinbarender Art sein, bei einem anderen Teil hingegen ist dies unmöglich. All die möglichen Aufhebungen dieser Konflikte zwischen den Hadith zu untersuchen, ist der Gegenstand dieser Forschung. Innerhalb dieser Disziplin werden auch Unvereinbarkeiten der Hadith mit den von der islamischen Religion anerkannten anderen Quellen zu einer Lösung zusammengeführt.

Obwohl akzeptiert wird, dass diese Disziplin die schwierigste unter den Hadithwissenschaften ist, wird allgemein auf die Notwendigkeit der Kenntnis dieser Disziplin von jedem Islamgelehrten hingewiesen.

Gelehrte wie Imam Schafii (204/819), Ibn Qutaiba (276/889), Ibn Huzaima (311/923), Tahâwî (321/933) und Ibn Fûrek (406/1015) haben dazu Bücher verfasst. Dieses Thema wurde von Ismail Lütfi Çakan in seiner Dissertation untersucht und mit dem Titel In Hadith vorzufindende Unvereinbarkeiten und diesbezügliche Lösungswege (Die Wissenschaft des muhtalifu´l-hadith[1] veröffentlicht. Außerdem wurde das Werk von Ibn Kutaiba ins Türkische übersetzt und mit dem Titel Die Hadithverteidigung[2] veröffentlicht.

al-Nasikh wa al-Mansukh

Diese Disziplin beschäftigt sich mit zueinander in Widerspruch stehenden Hadith, denen dies kaum anzumerken ist.

Eigentlich ist dieser Forschungszweig eine der Techniken und Lösungswege der Disziplin der Muhtalifu´l-hadith. Allerdings wird dieser Zweig aufgrund seiner Bedeutung als eine gesonderte Disziplin behandelt.

Neben den zu diesem Thema seit Beginn verfassten eigenständigen Werken, wurde hierzu auch in fast jedem Buch über Hadithmethodologie gesondert Stellung genommen. Das Buch von al-Hâzimî (584/1188) mit dem Namen al-I'tibar fi bayani'n-nasih wa'l-mansuh mina'l-asar ist eines der bekanntesten.

Scharh al-Hadith

Dieser Wissenschaftszweig versucht, ausgehend von den Hadith, die Intention des Propheten so genau wie möglich zu bestimmen. Dabei werden die Hadith im Rahmen der Regeln der arabischen Sprache und der religiösen Methoden (usul al-scharia) gedeutet. In ihren Erklärungen weist diese Wissenschaft des Hadithkommentars auf die möglichen abzuleitenden Urteile aus den Hadithtexten hin. In dieser Eigenschaft bildet diese Wissenschaft einen Unterzweig der Wissenschaft des dirayat al-hadith, dessen Grundlage das Verstehen und das Erfassen (fiqh al-hadith) der Hadith ist.

Die Kommentare unterschiedlichen Umfangs zu den Hadithbüchern, welche ein Produkt der wissenschaftlichen Arbeiten von Gelehrten sind, nehmen in diesem Bereich einen besonderen Platz in der Kulturgeschichte ein. Tatsächlich wird der Bereich fiqh al-hadith im weitesten Sinne in den Hadithkommentaren thematisiert.

Dscharh wa Ta´dil

In diesem Wissenschaftszweig werden Vorzüge, Fehlverhalten oder Mängel der Tradenten (Rawi) mit bestimmten Fachausdrücken untersucht. Das heißt, die Überlieferer werden aus der Sicht der Ehrlichkeit und der Vertrauenswürdigkeit vorgestellt.

Innerhalb der Hadithwissenschaften ist diese Disziplin die fortgeschrittenste. Seit den Gefährten des Propheten (sahaba) haben sehr viele Hadithgelehrte aus allen Überlieferergenerationen ihre Kritiken und Bewertungen nach den Prinzipien der Dscharh- und Ta´dil-Wissenschaft formuliert.

Neben den Dscharh- und Ta´dil-Werken, die entsprechend den Bewertungen dieser Wissenschaft die Tradenten in verschiedene Gruppen eingeordnet und sie innerhalb dieser Gruppen vorgestellt haben, gibt es auch allgemeine Werke, in denen die Tradenten ohne eine solche Einordnung jeweils einzeln besprochen und bewertet werden.

Ilm al-Ridschal

Diese Disziplin stellt die Tradenten aus Sicht der Hadithüberlieferung vor. Das bedeutet gleichzeitig auch eine Geschichte der Tradenten. Sie beschäftigt sich mit deren Biographien, den gesellschaftlichen Schichten, denen sie angehörten und ihren persönlichen Verhältnissen.

Werke wie Bukharis Târîkh und İbn Sa'ds Tabaqât sowie biographische Werke über die Prophetengefährten gehören zu dieser Wissenschaft.

Quelle: Ismail Lütfi Çakan, Anahatlarıyla Hadis, Ensar Neşriyat. İstanbul, 1996

www.derletzteprophet.info/die-hadithwissenschaften (15.02.2011)

 

[1] Hadîslerde Görülen İhtilaflar ve Çözüm Yolları (Muhtelifu'l-hadis İlmi)

[2] Hadîs Müdâfâsı