Die Bedeutung des Gebets

Der erste Grundpfeiler islamischen Gottesdienstes,

die Säule der Religion, das Licht des Glaubens,

das Gefährt der Gläubigen zum Aufstieg in den Himmel

Wahrhaft erfolgreich werden die Gläubigen sein; diejenigen, die in ihren Gebeten voll frommer Ehrerbietung sind.“ (Qur’ân, 23:1-2) 

Das menschliche Leben ist voll von Erscheinungen, die zur Suche nach der Wahrheit einladen, um den Schöpfer des Universums zu finden. Diese Erscheinungen entsprechen in konsequenter Weise unserer natürlichen Veranlagung, zu glauben und anzubeten; und diese ist ein angeborener und feststehender Bestandteil der menschlichen Natur. Diejenigen, denen die göttliche Wirklichkeit und Wahrheit verschlossen sind, gehen in die Irre, indem sie machtlose Wesen vergöttern, die ihnen nichts nützen können. Dabei geraten sie, wie in der Vergangenheit und auch heutzutage deutlich sichtbar ist, auf Abwege, die vollkommen unsinnig sind und jeder Logik widersprechen. Millionen von Menschen vergöttern so zum Beispiel Kühe und ähnliche Geschöpfe, während viele andere in ihren verfälschten Religionen dem transzendenten all-erhabenen Herrn menschliche Körperlichkeit zuschreiben.

All dies zeigt deutlich, dass der Mensch, um seine Bestimmung zu erfüllen, seinem wahren Wesen nur als Diener seines Erschaffers gerecht werden kann, wie es im heiligen Qur’ân beschrieben wird:

„Und ich habe die Jinnen und die Menschen zu nichts anderem erschaffen, als Mir zu dienen.“ (51:56)

Entsprechend dieser göttlichen Bestimmung ist der Mensch zur Dienerschaft erschaffen, das Geheimnis seiner Existenz ist in dieser Wesensart verborgen und diese beinhaltet, dass er sich in einem andauernden Zustand von Ohnmacht und Bedürftigkeit gegenüber seinem Herrn befindet. Deshalb hängt das Maß des Heils und Erfolges des Menschen davon ab, wie weit er in der Lage ist, diese naturgegebene Veranlagung Realität werden zu lassen, um so die Ehre und Würde des Menschseins zu verwirklichen. Seine Aufgabe ist dabei, seinen Herrn zu lobpreisen und anzubeten. Letztendlich beruhen alle erhabenen Charakterzüge und höheren Rangstufen, die den Menschen zuteilwerden, auf der erfolgreichen Bewältigung dieser Aufgabe. Im heiligen Qur’ân heißt es dazu:

Sprich: ‚Was soll Sich mein Herr um euch kümmern, wenn ihr (Ihn) nicht anbetet?’” (25:77)

Hier, wie in vielen anderen Versen des Qur’ân, sagt Allah deutlich, dass der Mensch, über das Glauben hinaus, gute Werke tun muss. Deshalb begeben sich die Gläubigen, deren Ziel es ist, reinen Herzens in die göttliche Gegenwart zu gelangen, zu den ehrwürdigen, reinen Quellen der gottesdienstlichen Handlungen. Dies sind die rechtschaffenen Werke, die ihre bereitwilligen Herzen voranschreiten lassen auf der Reise zu den Ozeanen der göttlichen Einheit ihres Herrn. Und das Gebet ist, zweifelsohne, die erhabenste und wichtigste Form des Gottesdienstes, der den Diener hin zu diesen Ozeanen führt, denn das Gebet ist, in Hinblick auf seinen Inhalt, seine Bedeutung und den damit verbundenen Rang, das Herzstück und der Höhepunkt aller Glaubenspraxis.

Die gesamte Schöpfung in diesem Universum, die Sonne, die grünen Weiden und die Bäume, sie alle lobpreisen Allah. Vögel, Berge und Sterne verkünden in uns unbekannter und unbegreiflicher Weise Sein Lobpreis. Die Pflanzen preisen Ihn durch ihr aufrechtes Stehen, Tiere lobpreisen Ihn, indem sie sich verneigen, leblose Objekte preisen Ihn durch ihr Liegen. Demselben Schema folgen auch die himmlischen Wesen. Manche der Engel lobpreisen ihren Herrn im Stehen, andere durch Sich-Verneigen oder Niederwerfung und wieder andere im Liegen. Das Gebet jedoch, das Allah den Menschen als Vehikel ihrer Himmelsreise dargeboten hat, schließt all diese unterschiedlichen Formen der Anbetung ein. Darum werden denen, die ihr Gebet wahrhaftig in Aufrichtigkeit verrichten, grenzenloser Lohn und unzählbare Stufen spiritueller Erfahrungen zuteil, denn diese Art der Anbetung birgt in sich die Gesamtheit aller Formen von Gottesdienst, die die Wesen dieser und anderer Welten verrichten können.

Süleyman Çelebî fasst diese besondere Eigenschaft des Gebets so elegant in Worte, wenn er sagt:

„Wer dies Gebet verrichtet,

erlangt den Lohn aller himmlischen Wesen.

Weil alle Formen der Anbetung darin sind,

liegt auch das Erreichen göttlicher Nähe darin.“

Und der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – hat darüber gesagt:

„Das Gebet erlaubt dem Menschen, das göttliche Wohlgefallen und die Zuneigung der Engel zu erlangen. Es ist der Weg der Propheten. Es ist das Licht der Weisheit. Es ist das Fundament des Glaubens. Es lässt die Versorgung des Menschen mit Zuwachs und Fruchtbarkeit gesegnet sein. Es bringt dem Körper Ausgeglichenheit. Es ist eine Waffe gegen die Feinde. Es hält Schaytân fern. Es ist ein Fürsprecher für den Betenden beim Engel des Todes. Es ist ein Licht und eine Ruhestätte im Grab. Es ist eine Antwort an die befragenden Engel (Nakîr und Munkar) im Grab. Es ist ein enger Freund bis zum Jüngsten Tag. Es ist ein Schatten für den Gottesdiener am Tage des Gerichts. Es ist eine Krone auf seinem Haupt. Es ist ein Gewand, das seinen Körper kleidet. Es ist ein vorausstrahlendes Licht. Es ist ein Schleier zwischen ihm und denen, die ihn verfolgen. Es ist ein Beweis zugunsten des Gläubigen vor Allah. Es ist ein Gewicht in der Waagschale. Es macht das Überqueren der Brücke ins Paradies leicht. Es ist ein Schlüssel zum Paradies. Denn das Gebet ist Lobpreis, Ehrerbietung, Verherrlichung, Rezitation und Fürbitte. Alles in Allem ist das Gebet zu seiner vorgeschriebenen Zeit die Zusammenfassung aller rechtschaffenen Werke.“[1]

In dieser Weise ist das Gebet der Treffpunkt mit Allah und ein Geschenk an die Muslime, das im Kleinen der Himmelfahrt (Mi´râj) des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – entspricht. So soll man sich der göttlichen Gegenwart durch das Gebet nähern, wie es im heiligen Qur’ân heißt:

... und wirf dich (in Anbetung) nieder und nähere dich (Allah)!“ (96:19)

Im aufrichtigen Gebet verschwindet alles andere außer Allah und alle weltlichen Angelegenheiten bleiben zurück. Der Anbetende und der Angebetete kommen an einem Treffpunkt zusammen. So kann der Mensch in die Tiefe göttlicher Geheimnisse vordringen. Die Verrichtung des Gebetes wurde dem Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – während seiner Begegnung mit Allah in der Nacht der Himmelsreise (Laylatu l-Mi`râj) aufgetragen, als er, ohne Vermittlung des Erzengels Jibrîl, seinem Herrn gegenüber trat. Deshalb sagte der in ständiger Nähe zu Allah und immerwährender Gottesschau lebende Gesandte Allahs – Segen und Friede seien auf ihm:

Das Gebet ist das Licht meiner Augen![2]

Durch keine andere religiöse Handlung kann man den gleichen Grad an Perfektion, innerem Frieden, Entspannung, Ruhe und Nähe gewinnen, wie durch das Gebet. Die Rangstufe des Gebets entspricht im Diesseits der des Anblicks Allahs im Jenseits, denn durch keine andere Art von Gottesdienst kommt der Diener Allah näher als durch das Gebet. Die feinste Art des Schmeckens und die größten spirituellen Erfahrungen finden sich im Gebet. Man könnte sagen, dass alle anderen Formen des Gottesdienstes für den Diener Vorbereitungen oder Vorstufen des Gebetes sind. Denn der Gesandte Allahs – Segen und Friede Allahs seien auf ihm – beschrieb das Gebet mit den Worten:

Die Säule der Religion, das Licht des Glaubens und des Herzens, der Schlüssel zur Glückseligkeit und die Himmelfahrt des Gläubigen.

Mit seinem emporstrebenden Wesen ist das Gebet ein außergewöhnlicher Gottesdienst, der, genau wie die Fâtiha, die erste Sure des Qur’ân, in zwei Teile zwischen dem Diener und Allah geteilt ist. Die ersten vier Verse:

„Im Namen Allahs, des All-Gnädigen, des All-Barmherzigen

Lobpreis sei Allah, dem Herrn der Welten,

dem All-Gnädigen, dem All-Barmherzigen,

dem Herrscher am Tage des Gerichts.“

beziehen sich auf Allah. Der fünfte Vers:

„Dir allein dienen wir und Dich allein bitten wir um Beistand“

stellt die Beziehung zwischen Allah und dem Diener her. Er vereint in sich die Zugehörigkeit des Dieners zu Allah und Allahs Göttlichkeit für den Diener, so dass der Diener sich bewusst wird, dass es einzig und alleine Allah ist, dem seine Anbetung gebührt. Die restlichen Verse der Sure:

„Führe uns den geraden Weg,

den Weg derer, denen Dein Wohlgefallen gilt,

nicht den derjenigen, denen Du zornig bist und nicht den der Irregehenden!“

gehören dem Diener.

In einem Hadîth Qudsî sagt Allah der Allmächtige mit den Worten des Propheten – der Segen und Friede Allahs seien auf ihm:

Ich habe das Gebet zwischen Mir und Meinem Diener geteilt: eine Hälfte gehört Mir und die andere gehört ihm![3]

Das Gebet ist ein Bitten und eine Anrufung des Dieners, gerichtet an seinen Herrn. Im Qur’ân heißt es:

... und verrichte das Gebet zu Meinem Gedenken!“ (20:14)

Und das Geheimnis des Verses „so gedenket Meiner, damit Ich euer gedenke!“ (2:152) enthüllt sich eher im Gebet als in irgendeiner anderen Form von Gottesdienst.

So wird während des Gottesgedenkens im Gebet die Begegnung mit Ihm zu der Wirklichkeit, von der Allah in dem Hadîth Qudsî durch Seinen Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – spricht:

Ich bin mit dem, der Meiner gedenkt ...[4]

Um jedoch wirklich zu dieser Begegnung zu gelangen, bedarf es der Stufe höchster Vorzüglichkeit (Ihsân), die der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – mit den Worten beschrieb:

Allah so zu dienen, als ob du Ihn sähest und wenn du Ihn auch nicht siehst, zu wissen, dass Er dich sieht.[5]

Ein Gebet, das in dieser Weise verrichtet wird, ist wie ‚das Licht des Auges’, das heißt, Anlass zu größter Freude. Wer in der Lage ist, sein Gebet so zu verrichten, dem eröffnen sich spirituelle Erfahrungen von der Rangstufe des Gottesgesandten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden. Mit einem solchen Gebet erwirbt der Betende das Wohlgefallen Allahs.

In dieser Weise ist das Gebet vergleichbar mit dem brennenden Busch, der dem Propheten Mûsâ – auf ihm sei der Friede – den Weg wies. Es ist der Trost gebrochener Herzen und ein Quell der Freude für die, deren Seelen der Beschäftigung mit dieser Welt überdrüssig geworden sind. Es ist geistige Nahrung und das Heilmittel der Seele. Und es ist die Sprache der Gotterkennenden. Der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – pflegte, wenn der Druck weltlicher Pflichten auf ihm lastete, Bilâl aufzufordern:

„O Bilâl, bring uns zur Ruhe mit dem Ruf zum Gebet!“

Es gibt keine andere Art von Gottesdienst, die dem Gebet vergleichbar wäre. Derjenige, der das Gebet verrichtet, kann sich mit nichts anderem beschäftigen, als mit dem Gebet. Das Gebet unterbricht seine Verbindungen mit jeder anderen Beschäftigung. Im wahrhaft aufrichtigen Gebet wird einem die Gelegenheit zur Begegnung mit Allah gegeben. Kein anderer Akt der Anbetung hat diese Freude zu bieten. Während des Fastens kann man zum Beispiel als Verkäufer oder Käufer auf dem Marktplatz stehen. Ähnliches gilt für den, der die Pilgerfahrt vollführt. Doch derjenige, der das Gebet verrichtet, kann niemals währenddessen Verkäufer oder Käufer sein. Er kann nur das Gebet verrichten, das heißt, er ist sowohl physisch als auch spirituell in der Gegenwart Allahs.

Aufrichtige Gläubige verrichten ihre Gebete fünfmal am Tag, so wie es ihnen im Qur’ân geboten wird:

... wahrlich, das Gebet ist für die Gläubigen Pflicht zu festgesetzten Zeiten.“ (4:103)

Darüber hinaus verrichten sie freiwillige Gebete, um, Schritt für Schritt, einen Platz unter den rechtschaffenen Dienern Allahs einzunehmen und schließlich, durch die endlose Großzügigkeit und Barmherzigkeit ihres Herrn, die Heimstätte des Friedens zu erreichen, die Allah ihnen bestimmt hat, wenn Er sagt:

Kehre zurück zu deinem Herrn ...“ (89:28)

Diejenigen Muslime, die diesen Pfad beschreiten, erfahren die Stufe, die gemeint ist, wenn Allah sagt:

„... so gedenket Meiner, damit Ich euer gedenke!“ (2:152)

Sie erfreuen sich an der Bedeutung des Ausspruchs:

... und das Gedenken Allahs ist am größten“ (29:45)

Diese Aussage beinhaltet zwei Bedeutungen. Zum einen, Allahs zu gedenken und, im Besonderen, Allahs in Form des Gebets zu gedenken, zum anderen aber auch: ‚Allahs Gedenken an Seine Diener ist größer als das Gedenken der Diener an Allah.’ Das Gebet ist die grundlegende und wichtigste gottesdienstliche Handlung, die den Diener Allah näher bringt.

 

[1] Abû l-Laith as-Samarqandî, Tanbîh al-Ghâfilîn, 293

[2] Nasa’î; Imâm Ahmad

[3] Muslim, Salât, 38-40

[4] Bukhârî, Tauhîd, 15

[5] Muslim, Îmân, 1