Die Schönheit im Antlitz des Todes

Die Fähigkeit, die Schönheit im Antlitz des Todes zu erkennen, markiert jene Stufe von Reife, die den Menschen dazu befähigt, die negativen und abstoßenden Aspekte des Egos [nafs] zu neutralisieren, wodurch ein „gewöhnlicher“ Mensch, in Befolgung des weisen Rats „Stirb, bevor du stirbst!“, zur Stufe eines vollkommenen Menschen [insān kāmil] erhoben wird.

Mit solcher Reife ist eine große Nähe zum Schöpfer verbunden, während das Verlangen nach Weltlichem seine Anziehungs­kraft einbüßt. Ein solcher Mensch genießt die Freuden seines Gottesdienstes, die Güte im Umgang mit anderen Menschen und das tugendhafte Verhalten; und seine Seele erfreut sich an dem Glück zunehmender Nähe zu ihrem Herrn. Aus diesem Grunde sagte Meister Jalāl al-Dīn Rūmī in Hinblick auf die Zeit, bevor er den Zustand der Gottesnähe erfahren hatte: „Ich war roh!“; über die Phase, die vom Streben nach dem göttlichen Wohlgefallen geprägt war, sagte er: „Ich wurde gekocht.“; und über die Zeit, in der sich ihm die Mysterien des Universums enthüllten, wie ein offenes Buch, sagte er: „Ich war verbrannt.

Solche Aussagen sind Ausdruck ernsthafter Anstrengungen auf dem Weg zu Allāh. Obwohl es so viele Wege zu Allāh gibt „wie die Zahl der Atemzüge aller Geschöpfe“, ist der effektivste Weg doch der als Faqr-u fanā’ bezeichnete Weg der Entleerung des Herzens und der Seele vom „Ich-Sein“ und „allem außer Allāh“ durch Gottesliebe. Dies führt zur Entdeckung der Schönheit im Antlitz des Todes, welcher sich dabei – in Verwirklichung des oben erwähnten Ausspruchs „Stirb, bevor du stirbst!“ – in eine niemals endende Vereinigung mit Allāh und vollkommene Entwerdung [fanā’] in Allāh verwandelt. Diese kostbare Erfahrung ist jedoch nur dem zugänglich, der die folgenden, für jedermann gültigen Bedingungen erfüllt:

1.1a) Tauba – Reue

Sünden sind die Folgen von Unwissenheit, sexueller Begierde, Arroganz, Zorn, Hass, von blinden Ambitionen, Eifersucht, Extravaganz sowie ähnlicher Ursachen. All diese Neigungen sind Hindernisse, die den Menschen seinem Schöpfer entfremden. Wenn es dem Menschen gelingt, den Schleier seiner Achtlosigkeit zu lüften, erkennt er voller Schrecken das Ausmaß seiner Laster; und die verborgenen tugendhaften Empfindungen erwachen in seinem Herzen, welches dann Frieden in Allāh findet, indem er Tränen aufrichtigen Bedauerns und der Trauer vergießt. Diese Trauer und dieses Bedauern werden Tauba genannt, was im ursprünglichen Sinne bedeutet, sich Allāh freiwillig zuzuwenden, bevor einen die unfreiwillige Rückkehr durch den Tod ereilt. In anderen Worten bedeutet Tauba ein Entfernen der Hindernisse zwischen dem Menschen und Allāh durch das Empfinden aufrichtigen Bedauerns.

Tauba ist der erste Schritt, der unverzichtbar not­wendig ist, um sich Allāh zuzuwenden, denn Sünden sind Hindernisse, die die Empfindsamkeit des Herzens mindern und es auf seinem Weg behindern. Ein sündenbehaftetes Herz gleicht einem schmutzigen Spiegel, in dem nur schemenhafte Abbilder erkennbar sind. Um darin klare Spiegelbilder zu erkennen, ist es jedoch notwendig, diesen mit einem sauberen Tuch abzuwischen. Genau so erfordert die Hinwendung zu Allāh eine Reinigung des Herzens von all den Sünden, die das Herz wie eine Schmutzschicht umgeben, durch Tauba und Bitten um Vergebung [istighfār]. Aus diesem Grund beginnen die Andachtsübungen in allen verschiedenen Zweigen des Tasawwuf mit Bitten um Vergebung.

Dies ähnelt zugleich dem subtilen Punkt der anfänglichen Negation durch „lā“ in der Bestätigung der göttlichen Einheit [kalimat al-tauhīd] „Lā ilāha illā Allāh“, die bedeutet: „Es gibt keine Gottheit außer Allāh.“ Mit anderen Worten: Es ist zuerst eine Negation des Falschen erforderlich, um die Grundlage für das wahre Ziel zu schaffen. In diesem Sinne ist die Bitte um Allāhs Vergebung fast schon eine Grundvoraussetzung für ein aufrichtiges Gebet. Maulānā Rūmī sagt:

Strebe nach der Vergebung Allāhs mit einem Herzen voll Bedauern und mit Augen voller Tränen, denn Blumen blühen an sonnigen und feuchten Orten!

1.2b) Zuhd – Weltverzicht

Zuhd bedeutet, das Herz aus dem Griff des weltlichen Luxus und der Jagd nach Vergnügungen, Besitztümern und gesellschaftlichen Positionen zu befreien. Und in der Tat macht der Tod all diese Dinge in einem einzigen Augenblick zunichte. Die Essenz des Weltverzichts besteht in der Fähigkeit, sein Leben und all seinen Besitz freiwillig aufzugeben, bevor der Tod sie einem unfreiwillig entreißt.

Das Verständnis des Menschen – zwischen den beiden entscheidenden Realitäten von Geburt und Tod – kann der Welt der Schatten nicht entkommen und in die Welt der Wirklichkeit vordringen, ohne eine wahrhaftige Erkenntnis der Bedeutung des Diesseits und des Jenseits zu entwickeln und sein Verhalten dementsprechend anzupassen.

Einer derer, die Erkenntnis erlangt haben, beschrieb diese Welt, die voller Weisheiten und Lehren ist, einmal so:

Für die mit Verstand Begabten ist sie ein Gleichnis, welches die unend­liche Allmacht und die zahllosen Geheimnisse Allāhs erahnen lässt – für die Narren dagegen besteht sie aus Essen und Trinken.

Wenn ein Mensch unfähig ist, den weltlichen Wünschen und Begierden in seinem Herzen Einhalt zu gebieten, wird die Enttäuschung ihn überwältigen und ins Verderben stürzen.

1.3c) Tawakkul – Gottvertrauen

Tawakkul bedeutet, Zuflucht bei seinem Herrn zu suchen und sich Ihm in völliger Hingabe zu unterwerfen, bevor der Tod einen ereilt. Auf Allāh zu vertrauen und sich Ihm ganz zu unterwerfen heißt nicht, alle mittelbaren Ursachen zu vernachlässigen, sondern ist eine Folge der Erkenntnis, dass, wenn die Ursachen nicht in Übereinstimmung mit Allāhs göttlichem Willen stehen, alle Bemühungen zwecklos sind. Das Bevorstehen des Todes lässt uns ohnehin keine andere Wahl, als diesen Zustand anzunehmen. Allāh, der Erhabene, sagt: {Und wer ganz auf Allāh vertraut, dem ist Er genüge.} (65:3)

Darüber hinaus bedeutet Tawakkul für denjenigen, dessen Herz ganz von Liebe zu Allāh erfüllt ist, vollständig auf Ihn zu vertrauen und sich nur Ihm zu unterwerfen. Allāh, der Erhabene, befragte den Propheten Mūsā – auf ihm sei Friede – nach seinem Stab und befahl ihm dann: „Wirf ihn hin!“, denn dieser Stock hinderte ihn – indem er ihm Selbstvertrauen einflößte – daran, vollkommen auf Allāh zu vertrauen. Und Allāh sagt wiederum: {Und vertraut ganz auf Allāh, wenn ihr wahrhaft Gläubige seid!} (5:23)

Dabei bedeutet Gottvertrauen kein ignorieren notwendiger Vorkehrungen und Be­mühungen; im Gegenteil: Es besteht in der Unterwerfung unter die Macht Allāhs, nachdem man alle diese Schritte unternommen hat.

Aufgrund des vollkommenen Gottvertrauens Ibrāhīms – Friede sei auf ihm – und seiner Unterwerfung unter den Willen Allāhs, verbrannte ihn das Feuer nicht. Denn als er sein Vertrauen ganz in Allāh legte und sich Ihm völlig hingab, befahl Allāh dem Feuer: {O Feuer, sei kühl und Friede für Ibrāhīm!} (21:69)

Wie bereits erwähnt, besteht Tawakkul in der freiwilligen Entscheidung, sich Allāh in Hingabe zu unterwerfen, bevor einen der Tod ereilt. Meister Jalāl al-Dīn Rūmī hinterfragt unser gewöhnliches Gottvertrauen, indem er sagt:

Prüfe dich einmal selbst, um zu sehen, ob du die Qualitäten Ibrāhīms besitzt! Das Feuer erkennt dies sehr genau. Es verbrennt nur jene nicht, die sich Allāh in rechter Weise vollkommen unterwerfen, so wie Ibrāhīm.

1.4d) Qanā‘a – Genügsamkeit

Qanā‘a bedeutet, nicht mehr zu begehren, als nötig ist; und Genügsamkeit wird sich zwangsläufig spätestens mit dem Tod einstellen. Zugleich stellt der Geist der Genügsamkeit jedoch das einzige Heilmittel gegen Neid, Eifersucht und blinden Ehrgeiz – die wohl gefährlichsten Charaktereigenschaften – dar; und die göttlichen Schätze, welche die Genügsamkeit den Herzen beschert, sind zahl- und grenzenlos. Vom Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – wird berichtet, er habe gesagt: „Genügsamkeit ist ein Schatz, der niemals zu Ende geht.[1]

Aus diesem Grunde besteht das wahre Maß des Reichtums in der Genügsamkeit und Zufriedenheit mit dem, was Allāh jedem einzelnen von uns gewährt hat. Qanā‘a bedeutet, nicht eifersüchtig auf jene zu sein, die mehr besitzen, als man selbst. Und die Freuden der Großherzigkeit kann nur erfahren, wer genügsam und zufrieden ist.

Eines der Prinzipien unseres Glaubens besagt, dass die Versorgung eines jeden durch göttliche Zuteilung bestimmt ist. Wenn man dies in Betracht zieht, wird augenscheinlich klar, dass blinder Ehrgeiz und Habsucht nicht nur unschön, sondern auch unvernünftig sind. Dennoch sind manche Menschen unfähig, ihre Ambitionen auf Besitz und Reichtümer aufzugeben, selbst wenn sie immer wieder mit eigenen Augen sehen, dass ganz andere Leute die Gewinne machen. Sie leiden an einer unheilbaren Selbstsucht. Reichtum bedeutet für sie Macht für sich selbst und über andere, und oft erfreuen sie sich darüber hinaus an der Bewunderung oder dem Neid der anderen.

Genügsamkeit ist das einzige Heilmittel, welches all diese Krankheiten heilen kann. Nur durch die Kraft der Genügsamkeit ist es möglich, dem Unheil zu entgehen, das viele jener Menschen befällt, die großen Reichtum besitzen. Dabei sollte sich die Genügsamkeit nicht allein auf den Wohlstand beziehen, sondern auch auf die mit diesem, sowie der aus ihm erwachsenden Macht verbundene Aufmerksamkeit und Bewunderung.

Kurz gesagt ist es unumgänglich, einzusehen, dass alle Reichtümer letztendlich Allāh gehören, und dass der Mensch diese nur für eine kurze Zeit verwalten darf. Der ehrwürdige ‘Alī – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – sagte einmal über jene, die die Gedanken an den Tod verdrängen:

Die meisten Leute versuchen Wohlstand anzuhäufen, auf dass ihre Erben etwas zu streiten haben!“

1.5e) ‘Uzla – Rückzug

Uzla ist ein notwendiger Bestandteil in der spirituellen Erziehung, der erforderlich ist, um die höchsten Stufen des Weges zu erklimmen. Dies bedeutet jedoch nicht in jedem Falle eine absolute Isolation und völligen Rückzug von allen gesellschaftlichen Bindungen. Für gewöhnliche Menschen kann ‘Uzla in einem innerlichen Sich-Zurückziehen inmitten der Menge bestehen, indem das Herz weg von allen weltlichen Angelegenheiten und hin zu Allāh ausgerichtet wird.

Darüber hinaus gibt es natürlich die von einigen wenigen Gottesfreunden praktizierte Form der vollkommenen Isolation. Aufgrund der geringen Zahl derer, die diese Art von ‘Uzla durchführen, hat dies jedoch keine großen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben. Diese Form von Rückzug ist speziellen, auserwählten Menschen vorbehalten. Im allgemeinen Sinne bedeutet ‘Uzla in der religiösen Erziehung jedoch keine Isolation vom sozialen Leben, sondern, im Gegenteil, einen Rückzug inmitten der Öffentlichkeit; das heißt: allein sein mit Allāh, selbst inmitten einer Menschenmenge. Es bedeutet, inmitten der Manifestationen des Göttlichen, stets mit Allāh zusammen zu sein, noch bevor wir im unvermeidlichen Rückzug im Grabe gezwungenermaßen all unsere weltlichen Bindungen aufgeben müssen.

1.6f) Dhikr (Allāh) – Gottesgedenken

Erscheinungen des Fließens der Ströme göttlicher Gnade [fayd] beruhen auf der Liebe zu Allāh [mahabba]. Der Grad dieser Gottesliebe hängt wiederum von dem Ausmaß ab, in dem Herz und Bewusstsein vom Gottesgedenken durchdrungen sind. Denn nur durch das Gedenken an den Geliebten kann die Liebe feste Wurzeln im Herzen und Verstand des Menschen schlagen. Das heißt: Je mehr wir Allāhs gedenken, umso stärker wird unsere Liebe zu Ihm.

Am wirkungsvollsten von allen Gottesnamen ist im Streben nach dem Fließen der Ströme göttlicher Gnade die Wiederholung Seines majestätischen Namens „Allāh“ [lafza-i Jalāl]. Wegen seiner machtvollen Stärke ist es für den, der diesen Weg beschreitet [al-sālik], ratsam, sein Gottesgedenken vor der Wiederholung dieses majestätischen Namens mit Bitten um Vergebung [istighfār] zu beginnen. Das Dhikr trägt – sowohl im Verhältnis zur Anzahl seiner Wiederholungen, als auch entsprechend seiner Intensität – zur Steigerung der Gottesliebe [mahabbat Allāh] bei. In anderen Worten: Je mehr man Allāhs gedenkt und je aufrichtiger dieses Gedenken ist, desto größer wird sein Nutzen und um so stärker wird das Fließen der Ströme göttlicher Gnade sein.

Wenn das Gedenken Allāhs, des Erhabenen, im Herzen eines Gläubigen fes­te Wurzeln schlägt, rückt dessen Erscheinungsform als Gottesdiener der Vervollkommnung näher. Im Edlen Qur’ān heißt es dazu:

{Fürwahr, im Gedenken Allāhs finden die Herzen Frieden.} (13:28)

Wenn Allāhs majestätischer Name jedoch nicht in das Herz einziehen kann, bleibt der Mensch ein Gefangener seines materiellen Strebens und physischen Verlangens. In einem weiteren Qur’ānvers heißt es dazu:

{Hast du den gesehen, der sich seine Gelüste zum Gott nimmt? Könntest du Vertreter seiner Angelegenheiten sein?} (25:43)

Tugenden, rechtschaffenes Handeln und geistig erhabene Zustände lassen sich in einem Herzen nieder, das von Spiritualität erfüllt ist, und ein Gottesdiener wird so zum Besten aller Geschöpfe. Auf der anderen Seite lassen sich Unglaube [kufr], Götzendienerei [schirk], schlechte Taten, Begierden und negative Einflüsterungen in einem Herzen nieder, das vom Verlangen des Egos beherrscht ist. Wenn diese dann das Herz kontrollieren, wird es blind gegenüber seinem Schöpfungszweck. In manchen Fällen stürzt der Mensch dann auf eine Stufe hinab, die noch weit unter der anderer Geschöpfe liegt!

Der Dichter Nizāmī beschreibt das Ende derer, die ganz von den Kräften ihres Egos [nafs] beherrscht sind, mit den Worten:

Die Genüsse dieser Welt sind wie eine juckende Hand. Anfangs emp­findet man das Kratzen als Wohltat, doch auf Dauer führt es dazu, dass die Hand brennt […].“

Meister Junayd al-Baghdādī verlieh der großen Bedeutung des geistigen Lebens Ausdruck, indem er den Befehl „Stirb, bevor du stirbst!“ und die Fähigkeit, das schöne Gesicht des Todes zu erkennen, mit den Worten beschrieb:

Allāh nimmt dich dir selber weg, um dich dann, im Zusammensein mit Ihm selbst, wieder aufzuerwecken.“

1.7g) Tawajju – Hinwendung

Tawajju bedeutet, jeden Ruf, außer den Ruf Allāhs, zu ignorieren. Die vollkommene Verwirklichung dieses Zustandes ist der Tod. In Wirklichkeit kann ein wahrhaft rechtschaffener Gottesdiener kein anderes Verlangen, keinen anderen Freund und kein anderes Ziel haben außer Allāh. Noch kann er Allāh jemals in einem Zustand von Achtlosigkeit vergessen. Wenn der Tod zu ihm kommt, wird demjenigen, der Seiner Gegenwart gegenüber achtlos war – entgegen seinem persönlichen Willen – mit Gewalt all das entrissen, dem er zugeneigt war, anstatt sich Allāh zuzuwenden. Wahres Glück hingegen besteht darin, sich Allāh noch während des diesseitigen Lebens freiwillig hinzugeben und sich ganz Ihm und Seinem Wohlgefallen zuzuwenden.

1.8h) Sabr – Geduld, Standhaftigkeit

Sabr bedeutet, sich Allāh zu unterwerfen, indem man sich still bemüht, mit unangenehmen oder schmerzlichen Umständen fertig zu werden, ohne dabei das Gleichgewicht zwischen dem Inneren und Äußeren zu verlieren. Im Grab werden wir – fern allem weltlichen Verlangen – zwangsläufig Geduld üben müssen. Wenn wir mit Ereignissen konfrontiert werden, die uns Geduld abverlangen, sind wir gezwungen, uns einiger sittlicher Eigenschaften wie Versöhnlichkeit, Güte, Bescheidenheit, Keuschheit, Genügsamkeit, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Freundlichkeit und Toleranz zu bedienen. Dabei ist es äußerst wichtig, angesichts all jener Dinge, die im Widerspruch zum Wohlgefallen Allāhs stehen, standhaft und geduldig zu sein, denn im heiligen Qur’ān befiehlt Er uns:

{Und haltet geduldig stand, bis Allāhs Befehl eintrifft!} (10:109)

Geduld wirkt wie ein Schutzschild gegenüber jeder Art von Schwierigkeiten. Der Tod ist das unausweichliche Ende aller hartnäckigen Begierden des Egos, und das Grab ist – gezwungenermaßen – ein Ort der Geduld bis zum Tag der Auferstehung.

1.9i) Murāqaba – Kontemplative Beobachtung

Murāqaba bedeutet, seine eigene Macht und Stärke beiseite zu lassen. Die vollkommene Verwirklichung dieses Zustandes ist der Tod. Genauer gesagt bedeutet die kontemplative Beobachtung das Sich-Fernhalten von Sünden durch die Bewusstseinsempfindung, ständig unter göttlicher Beobachtung zu stehen, denn nichts in der gesamten Schöpfung entzieht sich Seiner Reichweite. Nichts kann dem Tod und der Wiederauferstehung entgehen. Nicht-Sein und Existenz, Tod und Leben, Vergehen und Bestehen stehen in jedem Augenblick in einer Wech­sel­beziehung. In jedem Moment sterben Tausende von Körperzellen des mensch­lichen Körpers, während zugleich Tausende neue entstehen. In jedem Mo­ment werden Tausende Kinder geboren, während zugleich Tausende von Menschen sterben. Und während in jedem Moment zahllose achtlose Menschen trunken vor Begeisterung weltlichen Vergnügungen nachjagen, sind zugleich viele Rechtschaffene damit beschäftigt, Bittgebete zu sprechen und Zuflucht bei Allāh, dem Erhabenen, zu suchen. Die „letzte Haltestelle“ in dieser Welt – das Grab – erwartet jeden Lebenden.

Im gesamten Universum gelten einzig und allein Allāhs Bestimmung, Seine absolute Herrschaft und Seine göttliche Ordnung. Um die Kennzeichen der Gottesdienerschaft in sich zu stärken, ist es für den Menschen wichtig, sich bevor ihn der Tod ereilt der ständigen göttlichen Beobachtung bewusst zu werden. Mithilfe seiner Vorstellungskraft und Gedanken ist der Mensch fähig, sich auf Allāh hin auszurichten und in Seine Gegenwart zu gelangen, so wie es in dem weisen Ausspruch „Wer sich selbst erkennt, der erkennt seinen Herrn!“ zum Ausdruck kommt.

1.10j) Ridā – Zufriedenheit

Ridā bedeutet für den Gottesdiener, ein Leben, das auf die Zufriedenstellung seines Egos ausgerichtet ist, für ein Leben zur Zufriedenheit seines Herrn aufzugeben. Dieser Zustand wird letztendlich im Tod Wirklichkeit.

Ridā ist das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, welches durch die Reinigung des Herzens und Läuterung des Egos gewonnen wird. Auf diese Weise wird der Gottesdiener aus dem Gefängnis der vergänglichen und trügerischen Dinge befreit und unterwirft sich ganz und gar Allāh. Erfüllt von einer tiefen Freude erkennt der Mensch die Feinheit, die in den Worten zum Ausdruck kommt:

Was immer von Dir kommt ist mir eine Freude,

Sei es eine blühende Rose oder sei es ein Dorn.

Sei es Ehrenkleid oder Leichentuch,

Deine Güte ist mir recht, genau wie Dein Zorn!

1.11k) Tafakkur-i Maut – Nachdenken über den Tod

Die Welt des Diesseits [al-dunya] gleicht einer göttlichen Lehranstalt, in welcher der Tod das unumgängliche Gesetz des Hinübergehens bestimmt. Maulānā Rūmī sagt: „Wir sterben, um wieder auferweckt zu werden!“ Diese Auferweckung des Herzens ist nur durch eine bewusste Aufgabe egoistischen Verlangens möglich, und der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte:

Gedenket häufig des Zerstörers aller Vergnügen – des Todes!“[2]

Taffakur-i Maut bedeutet, freiwillig an den Tod zu denken, bevor er gegen deinen Willen zu dir kommt, sowie sich durch die Aufgabe der Wünsche des Egos auf die Gegenwart Allāhs vorzubereiten. Es ist eine sich auf den Glauben [īmān] gründende Kontemplation und ein daraus resultierendes Bewusstsein. Weltliche Erwartungen, vergängliche Hoffnungen und Labsale sind wie Blätter, die von den Bäumen auf die Gräber herabfallen. Und jeder Grabstein ist wie ein feuriger Prediger, der mit beredter Schweigsamkeit vom Tode kündet.

Ein wichtiger Grund dafür, Friedhöfe in den Städten, nahe den Hauptstraßen und in den Innenhöfen der Moscheen zu errichten, besteht darin, das Nachdenken der Menschen über den Tod zu fördern. Worte können nur in unvollkommener Weise die furchterregende, schwerwiegende Realität des Todes zum Ausdruck bringen. Alle Kräfte eines Menschen kommen zum Erliegen, wenn ihn der Tod ereilt. Und im Angesicht des Todes besteht die einzige Antwort der Bewohner dieser Welt in Tränen und hilfloser Trauer.

Wenn ein Gottesdiener freiwillig die Wünsche seines Egos aufgibt, wird Allāh, der Allmächtige, ihm in Seiner Gnade und Güte sicherlich ein neues Leben schenken. In der Tat sagt Allāh, der Erhabene:

{Ist etwa jener, der tot war, und dem Wir dann Leben schenkten und Licht gaben, mit dem er unter den Menschen wandelt, wie jener, der in Finster­nis verharrt, aus der er nicht herauszukommen vermag?} (6:122)

Ein solcher wahrhaftiger Diener wird, weil er sein egoistisches Verlangen nach der diesseitigen Welt aufgegeben hat, zu einem, dessen Herz wiederauferweckt wurde. Unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte:

Hüte dich vor dem durchdringenden Blick [firāsa] des Gläubigen, denn wahrlich, er sieht mit dem Licht Allāhs!“[3]

1.12[Fazit]

All diese hier aufgeführten Inhalte sind Vorbedingungen, die auf dem spirituellen Weg in die Praxis umzusetzen sind, um der Anweisung „Stirb, bevor du stirbst!“ in rechter Weise zu folgen. Dabei entsprechen die Fortschritte der Gläu­bigen, die sich bemühen, diesen Anweisungen zu folgen, der Ernsthaftigkeit ihrer Anstrengungen und ihrer Beständigkeit auf dem Weg. Und aufrichtiges Bemühen führt – mit Hilfe göttlicher Gnade – schließlich zur erstrebten Glückseligkeit.

Das Diesseits ist ein irreführendes Trugbild, das Jenseits hingegen ewiges Leben ohne Tod. Der Tod ist der persönliche „Tag des Jüngsten Gerichts“ für den Einzelnen. Darum lasst uns aufwachen, bevor wir zur Verantwortung gezogen werden, damit wir uns nicht später in verzweifeltem Bedauern verzehren. Es ist eine unvermeidliche Tatsache, dass jeder der Vergänglichkeit Unterworfene, zu einer unbekannten Zeit und an einem unbekannten Ort, dem Todesengel Azra’īl begegnen wird. Es gibt keinen Platz, an den wir uns vor dem Tod flüchten könnten. Die Menschheit muss deshalb anerkennen, dass Allāhs göttliche Gnade und Barmherzigkeit ihre einzige Zuflucht sind, und ihre Lehren aus dem Sinn Seiner Worte ziehen: {So flieht denn zu Allāh!} (51:50)

Für einen Mensch, der nur unter der Herrschaft seines Egos lebt und nur an das diesseitige, weltliche Leben glaubt, ist das Grab ein finsterer Korridor. Die Todesangst erfasst ihn mit unvergleichlichem Schmerz. Hielte er sich jedoch an die oben erwähnten Prinzipien, die ihm ermöglichen, sein mit dem Diesseits verwobenes Ego zu transzendieren und sich zu seiner, tief im Inneren verborgenen, engelsgleichen Seite hin zu entwickeln, erschiene ihm der Tod wie die heiß ersehnte Vereinigung mit seinem Geliebten – mit Allāh. Denn so betrachtet ist der Tod, der die meisten Menschen mit Schaudern erfüllt, die Begegnung mit „dem höchsten Freund“ [al-Rafīq al-A‘lā]. Ein solches Dahinscheiden gleicht – wie es einer der größten Sufi-Meister, der ehrwürdige Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī, zu nennen pflegt – einer „Hochzeitsnacht“ [shab-i ‘arūs]. Auf diese Weise verwandelt sich der Tod von einer schrecklichen Realität in etwas Wunderbares, Schönes. Der einzige Weg, dieses schöne Gesicht des Todes zu erkennen, besteht darin, den Anleitungen zu folgen, die wir oben beschriebenen haben. Dies kommt in bestmöglicher Weise in den Worten Allāhs zum Ausdruck:

{Und diene deinem Herrn bis die Gewissheit (des Todes) zu dir kommt!} (15:99)

Das heißt: Sei ein wahrhaftiger Diener Allāhs, des Erhaenen, bis zu deinem letzten Atemzug!

Welch übergroßes Glück ist jenen beschieden, die zu ihrem Herrn zurückkeh­ren, bevor der Tod sie ereilt!

O unser Herr, lass uns zur Welt der Wirklichkeit erwachen, indem wir die Essenz der Worte „Stirb, bevor du stirbst!“ erkennen und das Dasein in vollem Bewusstsein begreifen!

Āmīn!

 

[1] Überliefert von al-Bayhaqī in al-Zuhd al-Kabīr.

[2] Überliefert von al-Tirmidhī, al-Nasā’ī und Ibn Mājah in ihren Sunan.

[3] Überliefert von al-Tirmidhī in seinem Sunan.