Khauf wa Rajā’ – Furcht und Hoffnung

Im menschlichen Leben lässt sich meist ein ständiges Hin- und Herwogen zwischen den beiden Empfindungen Khauf und Rajā’, zwischen Furcht und Hoffnung, beobachten. Für ein gläubiges Herz ist es wichtig, zwischen diesen beiden Kräften ein harmonisches Gleichgewicht herzustellen. Denn aus übermäßiger Furcht oder übertriebener Angst entsteht Hoffnungslosigkeit, während zu große Sorglosigkeit und Draufgängertum ein falsches Gefühl von Sicherheit und Unverletzlichkeit erzeugen. Der Mensch sollte es sowohl vermeiden, sich vor der göttlichen Strafe Allāhs des Erhabenen in Sicherheit zu wiegen, als auch die Hoffnung auf Seine allumfassende Gnade und Barmherzigkeit aufzugeben. Ein vollkommener Gläubiger ist derjenige, dem es gelingt, das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Zuständen aufrecht zu erhalten.

Allāh, der Erhabene, sagt im Edlen Qur’ān über diejenigen, die wahrhaft gottesfürchtig sind und ihre Nächte im Gebet und Streben nach Allāhs Gnade und Vergebung verbringen:

{Sie enthalten sich ihrer Ruhestätten; sie rufen ihren Herrn voller Furcht und Hoffnung an und spenden freigiebig von dem, was Wir ihnen gewährt haben.} (32:16)

Absolute Hoffnungslosigkeit, das heißt, ein völliges Aufgeben der Hoffnung auf die Barmherzigkeit Allāhs, Seine großmütige Vergebung und Verzeihung, ist eine schwerwiegende Form von Achtlosigkeit [ghafla]. Wer so denkt, leugnet damit die Erscheinungen der mitfühlenden Gnade Allāhs, Seine Allmacht und Seine majestätische Herrlichkeit.

Die der absoluten Hoffnungslosigkeit vollkommen entgegengesetzte Haltung, sich völlig in Sicherheit zu wiegen, bringt hingegen eine vermeintliche Gefeitheit gegenüber jenen göttlichen Eigenschaften zum Ausdruck, die mit dem Gottesnamen al-Qahhār[1] in Erscheinung treten und kundet zugleich von einer hochgradigen Fehleinschätzung der vergeltenden Strafe Allāhs.

Kurz gesagt muss der Mensch sich um einen Zustand des Gleichgewichts bemühen, indem er sowohl den Grenzbereich absoluter Hoffnungslosigkeit als auch die Haltung anmaßender Selbstsicherheit vermeidet. Erdbeben, wie wir erst kürzlich eines erlebt haben,[2] oder andere Katastrophen und unerwartete außerordentliche Naturereignisse machen es häufig schwer, eine solche Balance zu finden.

Ein Gläubiger sollte bemüht sein, die folgende Geisteshaltung einzunehmen: Wenn ihm mitgeteilt würde, dass nur ein einziger Mensch ins Paradies gelangen wird, sollte er sich selbst fragen: „Werde ich das wohl sein?“, und wenn ihm gesagt würde, dass nur ein einziger Mensch ins Höllenfeuer geworfen werden wird, sollte er sich fragen: „Werde ich möglicherweise derjenige sein?“

Allāh, der All-Erhabene, warnt, lehrt und erzieht Seine Diener, indem er vielfältige, vom Himmel hernieder kommende oder explosionsartig aus der Erde hervorbrechende Katastrophen und Schicksalsschläge benutzt, um die Herzen Seiner Diener mit Gottesfurcht zu erfüllen und sie vor dem Hinabstürzen in die bodenlosen Tiefen der eitlen Wünsche und Begierden zu bewahren. Es wäre ein Zeichen vollkommener Achtlosigkeit und eine bodenlose Torheit, anzunehmen, dass diese Art von Unglücken sich unbeabsichtigt und rein zufällig ereignen. Die Folgen von Naturkatastrophen wie der Tod oder die gesundheitliche Schädigung von Tausenden von Menschen sowie die damit verbundene Armut und Obdachlosigkeit unzähliger Betroffener sind keine grund- und sinnlosen Geschehnisse. Im anderen Falle wäre es unmöglich, jemals den Sinn von Leben und Tod, das göttliche Schöpfungsprogramm und die Feinheiten der ihm innewohnenden eigenen Logik zu bejahen und zu deuten. Solche Katastrophen sind unverkennbar warnende Manifestationen der majestätischen Stärke und Allmacht des Schöpfers allen Seins. Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī sagt dazu:

Die Welt, in der wir leben, ist ganz von der ihr eigenen Begrenztheit und Ver­gänglichkeit geprägt. Der Ursprung ist hingegen die ewige und end­lose Heimstätte des Jenseits. Nutze deinen Verstand in rechter Weise, auf dass die blassen Eindrücke, die vergänglichen Gestalten und dahin­schmel­zenden Formen der äußeren Welt nicht ihre Schleier über dein Herz brei­ten können.

Auch wenn dir in deinen Augen diese Welt sehr groß und wichtig erscheinen mag, sei dir bewusst, dass sie in Anbetracht der göttlichen Allmacht nicht einmal soviel wie ein Atom ausmacht. Öffne deine Augen und schau noch einmal hin, wie ein Erdbeben, ein Orkan oder eine Flut die Erde verwüsten und wie sie die Situation dieser Welt und aller Wesen, die auf ihr existieren, vollkommen verändern!

Seht nur, wie unser Land infolge der schlagartig eingetretenen Ereignisse dieses „kleinen Vorgeschmacks auf den Tag der Auferstehung“ zum Schauplatz eines Schreckensszenarios geworden ist! Schaut euch die eingestürzten Gebäude an! Seht nur die von unserem Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – als Anzeichen des Jüngsten Tages vorhergesagten, zahllosen, unversehens jäh dahingerafften Toten!

In all diesen Ereignissen finden sich für uns unzählige Lehren und Exempel. Viel mehr als sie auf rein äußerliche Ursachen zurückzuführen, sollten wir derartige Katastrophen deshalb aus einer spirituellen Perspektive analysieren. Anstatt bei der Betrachtung solcher Heimsuchungen in den Fehler zu verfallen, die materiellen Ursachen überzubewerten, sollten wir uns ihnen mit den Maßstäben des Glaubens [īmān] und des Islam nähern.

Das gesamte Universum unterliegt, vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos und bis ans Ende der zukünftigen ewigen Welt, einem detaillierten und aufs Feinste abgestimmten göttlichen Plan. Angefangen von der Bewegung der Sonne und der Himmelskörper, über die kreisenden Bewegungen der kleinsten atomaren Teilchen, bis hin zu geheimnisvollen, unsichtbaren Strahlen folgt alles seiner, für uns unfassbaren und unerklärlichen, festgelegten Bahn. Alles unterliegt diesem göttlichen Plan. Nicht einmal ein Atheist würde wohl in Betracht ziehen, dass die Geschwindigkeit der Sonne zunimmt oder sich verringert, oder dass ein Tag auf einmal länger oder kürzer als 24 Stunden sein könnte. Insofern erkennt selbst sein Herz die ultimative Macht des göttlichen Willens an. Doch indem er seinem illusionären Wunschdenken folgt, interpretiert er die grundlegenden Regeln der göttlichen Ordnung als „Naturgesetze“, die er als eigenständige Ursachen der wirkenden Kräfte betrachtet. Dabei spiegeln all diese Gesetze und Prinzipien nur die Wirklichkeit der göttlichen Regeln [‘ādāt Allāh] und der speziellen Eigenart Allāhs [sunnat Allāh] wider.

Ohne Zweifel ist diese Welt eine Welt der Ursachen und Wirkungen. Allāh, der All-Erhabene, der die Ursache aller Ursachen ist, hat jede Wirkung mit be­stimmten Ursachen verbunden. Würde der göttliche Wille sich ohne sekundäre Ursachen direkt manifestieren, wäre diese Welt nicht in der Lage, die gewaltige Macht dieser Manifestationen [tajalliyyāt] auszuhalten, noch könnte sie ihrem Zweck als Stätte der Prüfungen gerecht werden. Infolgedessen beziehen sich diejenigen, denen das Licht der Erkenntnis zuteil geworden ist, nicht auf die sekundären Ursachen sondern auf deren tatsächlichen Verursacher. Diejenigen hingegen, denen die Schau des Göttlichen versagt geblieben ist, wandern vergebens zwischen Ursachen hin und her und bleiben dauernd dem Bereich physikalischer Kausalitäten verhaftet.

Um Übeltäter und Unterdrücker zu strafen, lässt Allāh, der Allmächtige, gele­gentlich – entsprechend dem Maß der von ihnen verursachten materiellen oder spirituellen Drangsal – Naturereignisse eintreten, die den Rahmen des uns ge­wohn­ten Ablaufs des göttlichen Planes sprengen. Das heißt, Er verwandelt Feuer, Wasser, Wind und andere Naturgewalten zur Erfüllung eines anderen Planes in Kräfte der Zerstörung. In der Unfähigkeit, den göttlichen Willen hinter derartigen Naturereignissen zu erkennen, offenbart sich eine Art menschlicher Blindheit. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī warnt diejenigen, die dieser Form von Achtlosigkeit anheimgefallen sind, indem er sagt:

Vergiss niemals, dass diese Welt in Anbetracht der göttlichen Allmacht Allāhs nicht mehr als ein Strohhalm ist. Der göttliche Wille hebt diesen mal empor, ein anderes Mal bringt er ihn nach unten. Manchmal lässt Er ihn ganz, manchmal zerknickt Er ihn. Mal trägt Er ihn nach rechts, ein anderes Mal nach links. Manchmal verwandelt Er die Welt in einen Rosengarten und manchmal in ein Dornengestrüpp.

Weil Allāh, der Allmächtige, es so wollte, dass diese Welt eine Stätte der Prüfungen sei, treten im Wirkungskreis der Ursachen solch gegensätzliche Einflüsse wie göttliche Bezwingerkraft [qahr] und gnadenreiche Güte [lutf] in Er­schei­nung.

Das In-Erscheinung-Treten gnadenreicher Güte steht in Verbindung mit den aufrichtigen Bittgebeten, dem Flehen, den freiwilligen Spenden und vielerlei anderen rechtschaffenen Handlungen der Gottesdiener, die allesamt als mittelbare Ursachen zur Manifestation göttlicher Wohltaten beitragen.

Das In-Erscheinung-Treten der göttlichen Bezwingerkraft hingegen ist die Folge von verbotenen Handlungen [harām], von Unterdrückung [zulm] und massenhaft auftretender Zügellosigkeit; gleichzeitig manifestiert sich diese Kraft jedoch auch, um die Menschen hinsichtlich ihrer Geduld und Standhaftigkeit, ihres Gottvertrauens und ihrer Hingabe an Ihn zu prüfen. In dieser Weise prüft Allāh, der Allgewaltige, von Zeit zu Zeit seine Diener. In einem Vers des Edlen Qur’ān heißt es diesbezüglich:

{Und gewiss werden Wir euch Prüfungen aussetzen, mit etwas Furcht und Hunger und Verlust an Vermögen, Menschenleben und Ernten. Und den standhaft Geduldigen verkünde frohe Botschaft!} (2:155)

Der Tatsache, dass die Propheten – auf ihnen sei der Friede –, obwohl sie allesamt durch göttliche Bestimmung vor dem Begehen von Sünden bewahrt sind, oft große Qualen zu erdulden hatten und schwersten Heimsuchungen ausgesetzt waren, liegt eben diese göttliche Weisheit zugrunde. In diesem Zusammenhang sind die Prüfungen, denen der Prophet Ayyūb (Hiob) – auf ihm sei Friede – ausgesetzt war, ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Zuerst nahm Allāh, der Erhabene, diesem ehrwürdigen Propheten mit der Absicht, ihn zu prüfen, all seinen Besitz, indem er durch eine Flut seine Schafherden ertränkte und durch einen Sturmwind seine Felder vernichtete. Kurz darauf raffte ein gewaltiges Erdbeben seine Kinder dahin. Nachdem er all diese Schicksalsschläge geduldig und voller Gottvertrauen als Allāhs Willen akzeptiert und klaglos hingenommen hatte, ließ Allāh ihn schwer erkranken. Doch auch in diesem Zustand schwerster Krankheit klagte oder lamentierte Ayyūb – Friede sei auf ihm – nicht, sondern hielt an seiner vollkommenen Unterwerfung unter den göttlichen Willen fest. Wegen seiner beharrlichen Geduld und Hingabe befreite Allāh ihn von allem Kummer und Leid indem er ihn von seiner Krankheit heilte, ihm seine Familie zurückgab und ihm ein Leben schenkte, das besser war, als jenes, das er vor seinen Prüfungen geführt hatte.

Dieses Beispiel belegt, dass unter den bei manchen Katastrophen als Märtyrer Getöteten sowohl unschuldige Kinder als auch Rechtschaffene sein können, ebenso wie solche, denen Allāh durch ihren Märtyrertod Vergebung für ihre Sünden gewähren will. Es wird überliefert, dass der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte:

Wenn Allāh einem Diener eine bestimmte Rangstufe bestimmt hat, die derjenige nicht durch seine Handlungen erreichen kann, sendet Er ihm Schicksalsschläge und Heimsuchungen. Dann gewährt Er in Seiner Gnade diesem Diener die nötige Geduld, um dieses Unglück zu ertragen, sodass er die ihm bestimmte Stufe erreichen kann.“[3]

Und:

Ein Diener besitzt bei Allāh eine bestimmte Stufe, die er durch seine got­tes­dienstlichen Handlungen nicht erreichen kann. Bis diese Stufe erreicht ist, sendet Allāh ihm unliebsame Dinge.“[4]

Als der ehrwürdige Prophet Mūsā (Moses) – auf ihm sei Friede – auf dem Weg zum Berge Sinai war, begegnete er einem Mann. Dieser sagte zu Mūsā: „O Kalīm Allāh[5], ich habe einen Wunsch und bitte dich, auf dem Berg Sinai zu Allāh, dem Erhabenen, zu beten, dass er mir meinen Wunsch erfüllt.

Der ehrwürdige Prophet Mūsā – auf ihm sei Friede – sagte:

Was ist denn dein Wunsch? Sag es mir, damit ich Allāh darum bitten kann!“

Das ist ein Geheimnis zwischen mir und meinem Herrn“, erwiderte der Mann.

Nachdem er den Berg Sinai erreicht hatte, sprach der Prophet Mūsā – auf ihm sei Friede – mit seinem Herrn und bat dabei Allāh, diesem Mann seinen Wunsch zu erfüllen. Allāh ließ ihn wissen, dass Er dem Mannn seine Bitte erfüllt habe. Auf dem Rückweg hielt Mūsā – auf ihm sei Friede – an der Stelle an, wo er dem Mann begegnet war, um ihm die frohe Botschaft mitzuteilen. Doch voller Schrecken musste er feststellen, dass der Mann von Raubtieren getötet und zer­fleischt worden war. Dieser Anblick verwirrte ihn und er sagte:

O mein Herr, was ist das Geheimnis? Hast Du ihm so seinen Wunsch er­füllt?“

Daraufhin sprach Allāh, der Erhabene:

O Mūsā! Dieser Diener bat mich um eine spirituelle Rangstufe, die er durch seinen Gottesdienst und eigene Anstrengungen niemals hätte er­rei­chen können. Deshalb sandte ich ihm diese Heimsuchung und erhöh­te ihm so seine Rangstufe in Meiner Gegenwart.“

In einer prophetischen Überlieferung heißt es:

Wann immer Allāh, der Erhabene, Seinem Diener Heimsuchungen sen­det, tut Er dies entweder, um ihm dafür seine Sünden zu vergeben, oder, um seine Rangstufe zu erhöhen.“[6]

Deshalb sollte man weder angesichts der Manifestationen der alles bezwingenden Macht Allāhs in Hoffnungslosigkeit verfallen, noch sollte Seine gnadenvolle Güte einen dazu verleiten, sich vollkommen in Sicherheit zu wiegen.

Auf der anderen Seite nehmen die der speziellen Eigenart Allāhs [sunnat Allāh] entspringenden Erdbeben, Feuersbrünste, Kriege, Epidemien oder Dürreperioden innerhalb eines jeden Zeitabschnittes, ebenso wie die ihnen gegenüberstehenden Ausschüttungen göttlicher Gnade und Segnungen, jeweils die Form an, die dem inneren Zustand der Menschen entspricht. Wenn die überwiegende Mehrheit der Gottesdiener sich auf dem Weg der Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit bewegt, fallen die Regentropfen als Segen und Barmherzigkeit vom Himmel und sind ein Anlass von Glück und Harmonie. Wenn dagegen die Mehrheit der Menschen sich ganz den Wünschen und Begierden ihrer Egos hingegeben hat, nur Schlechtigkeiten begeht und ihre Herzen, ohne dass sie dabei auch nur ein schlechtes Gewissen hätten, voller Ungehorsam und rebellisch gegen ihren Schöpfer sind, verwandeln sich die Regentropfen, die ursprünglich ein Ausdruck göttlicher Gnade sind, in zerstörerische Fluten, oder bleiben ganz aus, sodass es zur Dürre kommt. In anderen Fällen kommt es zu Erdbeben durch explosionsartige tektonische Bewegungen der unter unseren Füßen liegenden Gesteinsplatten. Das heißt: Diese Art von Katastrophen treten ohne jeden Zweifel infolge der Rebellion und der Untaten der Menschen auf, sie ereignen sich erst, nachdem bereits auf der spirituellen Ebene ein zerstörerisches Erdbeben in Form gewissenloser Lebensführung stattgefunden hat. In einem Vers des heiligen Qur’ān heißt es:

{Wahrlich, Allāh ändert nicht das, was in einem Volke ist, bis sie selbst ändern, was in ihrem Innern ist.} (13:11)

Allāh, der All-Erhabene, ist ganz gewiss kein Unterdrücker. Diese Katastrophen sind in der Tat die unausweichlichen Folgen der Rebellion und Ungerechtigkeit der Erdenbewohner. Für jene Menschen, die die göttliche Ordnung und die heiligen Grundregeln bewusst missachten, gibt es kein Entrinnen vor den schmerzhaften Folgen der göttlichen Vergeltung. Allāh, der Allmächtige, sagt im Edlen Qur’ān:

{Kein Blatt fällt herab, ohne dass Er darüber Bescheid wüsste; und es gibt kein Samenkorn in der Dunkelheit der Erde, noch etwas Feuchtes oder Trockenes, ohne dass es exakt in einem offenkundigen Buch ver­zeich­net wäre.} (6:59)

Angesichts der Tatsache, dass nicht einmal das Herabfallen eines Blattes ohne Wissen und Erlaubnis Allāhs, des Allmächtigen, möglich ist, wäre es sicher nicht plausibel anzunehmen, dass ein ganzes Land aufs Geratewohl und ohne Sein Wissen solch gewaltigen Erschütterungen ausgesetzt wird. Natürlich waren bei diesem Unglück auch äußere Gründe wie Konstruktionsmängel an Ge­bäuden oder Fehlorganisation bei den Rettungsarbeiten von Bedeutung. Dennoch – ganz gleich ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, und unabhängig davon, ob wir es bestimmten Personen zuordnen können oder nicht – ist es wahr, dass zugleich spirituelle Faktoren, wie die Auflehnung und der Ungehorsam im Inneren vieler Menschen und ihr daraus resultierendes Verhalten, eine beachtliche Rolle gespielt haben. Es wäre deshalb sicherlich ein großer Fehler, diese Katastrophe nur von der dem Verstand zugänglichen Seite zu betrachten und ihre spirituellen Aspekte völlig außer Acht zu lassen. Besonders erschreckend ist, zu beobachten, wie offenbar gänzlich der Achtlosigkeit verfallene Menschen meinen, noch bevor das Unglück ganz zu Ende ist, ihrer rebellischen Natur nun erst recht freien Lauf lassen zu können, anstatt Reue zu zeigen. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī sagt über solche Menschen:

Welch ein Jammer ist es, diejenigen anzuschaun, die, anstatt diese War­nun­gen als Heilmittel für ihre Leiden zu benutzen, sich daraus ein tödli­ches Gift bereiten! Aus eben diesem Grunde vermehrt der Schleier des göttlichen Zorns die Finsternis in ihren Augen. Sie sind unfähig, das di­rekt vor ihnen liegende, alles vernichtende Höllenfeuer zu sehen, das nur darauf wartet, sie zu verschlingen. Oh wehe ihnen!

Auf jeden Fall sollte man die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen für zukünf­tige Katastrophen treffen, doch nachdem man diese notwendigen Schritte mit der gebotenen Sorgfalt unternommen hat, sollte man auf Allāh vertrauen.

Einmal ging der ehrwürdige Kalif ‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – geradezu fluchtartig an einer Mauer vorbei, die gerade eingerissen wurde. Die Anwesenden fragten ihn:

O Führer der Gläubigen, versuchst du der Bestimmung Allāhs zu ent­fliehen?“

Der ehrwürdige ‘Umar erwiderte darauf:

Ich suche Zuflucht vor der Bestimmung Allāhs in einer anderen Be­stimmung Allāhs!“

Diejenigen jedoch, die rein materialistisch denken, bauschen die Wichtigkeit und Wirkung organisatorischer Maßnahmen auf und vertreten die Ansicht: „Wenn wir die Gebäude nur sicherer gebaut hätten, wäre dies Unglück nicht über uns gekommen.

Doch wenn man weiß, dass alles vom göttlichen Willen bestimmt ist, wird man erkennen, dass die von Ihm geschaffene wirksame Ursache stets stärker sein wird als alle Sicherheitsmaßnahmen. So könnte ein Erdbeben genauso gut eine Stärke von 11.4 anstatt 7.4 auf der Richterskala haben, oder eine andere wirksame Ursache könnte in Erscheinung treten. Das Erdbeben von Kobe[7] ist ein gutes Beispiel dafür: Die dortigen Gebäude waren entsprechend den modernsten Standards der Erdbebensicherheit gebaut worden, doch unglücklicherweise explodierten während des Erdbebens die Gasleitungen und es kam zu einer Feuersbrunst, in deren Folge sechstausend Menschen ums Leben kamen. So reichten in Kobe zwanzig Sekunden, um alles, was die Menschen in Jahren aufgebaut hatten, zu vernichten.

Als Diener Allāhs ist es unsere Pflicht, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf etwaige zukünftige Katastrophen vorbereitet zu sein. Es sollte uns jedoch stets bewusst sein, dass derartige Vorkehrungen niemals eine Garantie gegenüber dem uns bestimmten Schicksal bieten können. Alle Vorsichtsmaßnahmen wirken immer nur soweit oder solange, wie sie in Einklang mit der göttlichen Bestimmung stehen.

In augenfälligem Gegensatz dazu verhielt sich beispielsweise der Stamm der Thamūd gegenüber dem Volk von ‘Ād. Der Stamm der Thamūd schrieb infolge seiner eigenen rebellischen Auflehnung gegen Allāh die Vernichtung des Volkes von ‘Ād hochmütig nicht dem göttlichen Zorn, sondern anderen Ursachen zu. Sie behaupteten: „Das Volk von ‘Ād wurde vernichtet, weil seine Bauwerke nicht sicher genug waren, denn sie hatten auf Sand gebaut. Wir hingegen haben unsere Häuser auf den Fels gebaut, so dass uns ein derartiger Sturm nichts anhaben könnte.“ Und tatsächlich hatten sie äußerst solide Gebäude auf felsigem Fundament errichtet. Dennoch wurden sie vernichtet, weil sie genau wie das Volk der ‘Ād durch ihr rebellisches Verhalten die göttliche Strafe auf sich gezogen hatten. Mit einem schrecklichen Geräusch, das sie von unten aus dem Boden her erfasste, wurden sie hinweggefegt. Allāh, der Erhabene, sagt im Edlen Qur’ān:

{Da ergriff diejenigen, die Unrecht getan hatten, der gewaltige Schrei, und am Morgen lagen sie leblos in ihren Wohnstätten, als hätten sie sich dort nie des Wohllebens erfreut. Die Thamūd leugneten ihren Herrn; hin­weg mit den Thamūd!} (11:67-68)

Wenn man über diese Tatsachen nachdenkt, sollte einem klar werden, dass bautechnische Maßnahmen oder die Wahl sicherer Standorte allein letztendlich niemals wirklichen Schutz vor Katastrophen bieten können. Denn es sind die Verderbt­heit, der Unfrieden, die Undankbarkeit, die Auflehnung, die Sündhaftigkeit und die Zügellosigkeit auf dieser Erde, die den göttlichen Zorn des Allmächtigen heraufbeschwören und Seine Strafe über die Menschheit bringen. Wenn die göttliche Ordnung auf dem Land und im Meer mutwillig zerstört wird, folgt ein Verhängnis dem anderen. Diese Tatsache wird in einem Vers des Edlen Qur’ān mit folgenden Worten ausgedrückt:

{Unheil ist auf dem Festland und auf dem Meer erschienen infolge dessen, was die Hände der Menschen erworben haben; auf dass Er sie dadurch etwas von dem kosten lasse, was sie angerichtet haben, damit sie (reuig) umkehren.} (30:41)

In diesem Vers wird die darin erwähnte göttliche Strafe nur als {etwas von dem}, das heißt, als ein geringer Teil, beschrieben, was als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass die eigentliche göttliche Strafe die Übeltäter im Jenseits erwar­tet. Zugleich birgt diese Strafe eine Ermahnung und Warnung in sich, welche für die maßlos gewordenen Gottesdiener eine Art nachdrückliches belehrendes Zeichen zur Umkehr sein soll. Aus diesem Grunde sollte man in solchen Zeiten des Unglücks noch mehr als sonst bei Allāh Zuflucht suchen und Seine Vergebung erflehen. Allāh selbst deutet darauf hin, wenn Er sagt:

{Und Allāh wird sie nicht strafen, solange du (Muhammad) in ihrer Mitte weilst, und er wird sie nicht strafen, solange sie um Vergebung bitten!} (8:33)

Neben unserem Bitten um Vergebung sollten wir, mit der Absicht, Unheil von uns abzuwenden und das Gute anzuziehen, zwei Gebetseinheiten [rak‘a] des Gebets der Bedürftigkeit [salāt al-hāja] verrichten und Schutz in der Gnade und dem Mitgefühl Allāhs, des All-Barmherzigen, suchen, so wie Allāh es im heiligen Qur’ān empfiehlt, wo es heißt:

{O ihr, die ihr glaubt, sucht Beistand in Geduld und im Gebet!} (2:153)

Daneben sollten wir uns an den Rat des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – halten, von dem überliefert wird, er habe gesagt:

Wer dem Opfer eines Unglücks sein Beileid zum Ausdruck bringt (d.h. indem er ihm sowohl geistigen als auch materiellen Beistand leistet), dem wird doppelter Gotteslohn zuteil.“[8]

Wir müssen uns vor Augen halten, dass ebenso wir selbst in der Lage der Opfer hätten sein können und sie in der unseren. Deshalb sollten wir Katastrophenopfern gegenüber freigiebig sein, um auf diese Weise unserer Dankbarkeit gegenüber Allāh Ausdruck zu verleihen. Wir sollten den Mittellosen, den Verletzten und Erschöpften in den Katastrophengebieten die Hand reichen und aus Mitgefühl für Allāhs Geschöpfe ihre Not, ihr Leid und ihre Schmerzen so schnell lindern, wie wir nur können. Dabei sollten wir dies als Chance begreifen, Gutes zu tun und rechtschaffene Werke zu verrichten, so wie Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī es empfohlen hat, indem er riet:

In einem solchen Falle wende deinen Blick flehentlich zu Allāh!

Weine von Herzen, lobpreise Allāh und vermehre deine guten Taten!

Doch wir haben uns, nachdem dieses schreckliche Unglück Tausende von Menschen getötet und verletzt hat, direkt wieder dieser Welt zugewandt und verschieben das Verrichten rechtschaffener Werke lieber in die ferne Zukunft. Uns ist, so könnte man sagen, das Leben von Neuem geschenkt worden. Infolgedessen haben wir am Tag der Auferstehung nicht das geringste Recht, zu bitten: „O unser Herr! Würdest Du uns nur zurück in die Welt senden, wir würden rechtschaffene Werke tun!“ Diese Ausrede können wir nun nicht mehr anbringen. Diese Katastrophe sollte ausreichen, um uns wachzurütteln, und wir sollten sie zum Anlass nehmen, häufig im Geiste der weisen Worte „Stirb, bevor du stirbst!“ über den Tod nachzudenken. Besonders sollten wir nicht müde werden, unsere Herzen, voller Gottvertrauen und innerer Zufriedenheit mit der göttlichen Bestimmung, in Geduld, Hingabe, Rechtschaffenheit und stetigem Bittgebet zu schulen.

Die folgenden Worte aus dem Edlen Qur’ān, die vom Propheten Mūsā – auf ihm sei Friede – und dem Erdbeben handeln, mit dem Allāh, der Allmächtige, den Berg Sinai erbeben ließ, sind ein treffliches Beispiel, welches uns zugleich Rechtschaffenheit und rechtes Bitten lehren sollte. Allāh der Erhabene sagt:

{Und Mūsā wählte aus seinem Volk siebzig Männer für die Begegnung mit Uns aus. Doch als das Beben sie ereilte, sprach er: „Herr, hättest Du es gewollt, hättest Du sie bereits zuvor vernichten können und mich auch. Willst Du uns denn vernichten um dessentwillen, was die Toren unter uns getan haben? Dies ist gewiss nichts anderes als Deine Prüfung, durch die Du irregehen lässt, wen Du willst, und rechtleitest, wen Du willst. Du bist unser Beschützer; so vergib uns und erbarme Dich unser; denn Du bist der Beste derer, die vergeben.“} (7:155)

Wie hier erneut deutlich wird, blieben auch die Propheten nicht von Prüfungen verschont, vielmehr wurden ihre Herzen mit den verschiedensten schrecklichen Heimsuchungen hinsichtlich ihres Gottvertrauens, ihrer Hingabe, ihrer Zufriedenheit mit der göttlichen Bestimmung, ihrer Gottesfurcht und ihrer Gottesliebe auf die Probe gestellt. Sie lebten in einem Zustand der Balance zwischen Furcht und Hoffnung und waren die von Allāh, dem Allmächtigen, bestimmten Führer auserwählter Völker, denen das Wohlgefallen Allāhs zuteil wurde. Auch wir sollten uns deshalb mit aller Kraft bemühen, in jeder Situation, ganz gleich ob wir komfortable Zeiten voller Weite und Leichtigkeit oder schwere Tage voller Bedrückung und Belastungen durchleben, ein Gleichgewicht zwischen Furcht und Hoffnung aufrecht zu erhalten.

O unser Herr, bewahre die Gemeinschaft der Muslime vor jeder Art von Übel, Heimsuchungen und Leid, vor Deinem Zorn und Deiner Strafe! Lass uns zu jenen Glücklichen zählen, die geduldig sind in Furcht und Hoffnung, in Sicherheit und Not! Schenke uns innere Harmonie und Herzensfrieden und verwandle diese Nächte der Finsternis voller Qual und Schwierigkeiten in lichtstrahlende Morgen voller Segen und Freude!

Āmīn!

 

[1] Al-Qahhār ist einer der 99 schönen Gottesnamen und bedeutet „der All-Bezwingende“.

[2] Dieser Text stammt aus der Zeit kurz nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei im August 1999, das nach offiziellen Angaben 17.480 Menschenleben kostete.

[3] Vom Autor zitiert aus Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevis Ramūz’ül-Ehādīs.

[4] Ebenda

[5] Kalīm Allāh, wörtlich: „der, zu dem Allāh spricht“, ist der Ehrenname des Propheten Mūsā – Friede sei auf ihm.

[6] Vom Autor zitiert aus Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevis Ramūz’ül-Ehādīs.

[7] Im Jahr 1995 verwüstete ein Erdbeben der Stärke 6.9 die vermeintlich erdbebensichere südjapanische Stadt Kobe.

[8] Vom Autor zitiert aus Ahmet Ziyaeddin Gümüşhanevis Ramūz’ül-Ehādīs.