Der Koran - linguistische, fachspezifische und teleologische Definitionen
1 Einführung
Was ist der Koran? Auf diese Frage würden wohl die meisten Menschen antworten, dass es das heilige Buch der Muslime sei. Heilig, weil es einen göttlichen Ursprung beansprucht. Doch genügt diese gängige Antwort nicht wissenschaftlicher Präzision. Was ist der Koran wirklich? Ist der Koran immer ein Buch gewesen bzw. ist er primär ein Buch oder ist die Buchform nur sekundär?
Es gehört zu den unverzichtbaren Grundprinzipien der islamischen Wissenschaften, dass einer linguistischen Bedeutung eines Begriffs seine fachsprachliche Definition folgt. Die muslimischen Wissenschaftler die Wichtigkeit der philologischen Untersuchung hervorgehoben, indem sie für das richtige Verständnis des Korans die altarabische Dichtung, Rhetorik, Etymologie, Lesarten und Schreibvarianten sowie die Grammatik heranzogen.
Deshalb behandeln auch die Koranwissenschaften in ihren Anfangskapiteln die linguistische Bedeutung und die fachspezifische Definition des Korans. Hierbei geht es vor allem darum den Koran als das Wort Gottes präzise und unmissverständlich vom Menschenwort zu unterscheiden. Mit anderen Worten dient eine Definition (lat. definitio = Abgrenzung, Bestimmung) der Bestimmung dessen, was der Koran ist und seiner Abgrenzung von allem anderen, sodass es nicht zur Verwechslungen kommt.
Darüber nun, was der Koran ist, was er als Buch beinhaltet und umfasst, gibt es einen Konsens bei allen Islamwissenschaftlern. Über den sprachlichen Ursprung bzw. die linguistische Bedeutung gibt es keine vergleichbare Übereinkunft unter den Gelehrten. Buhl stellt fest:
„Über Aussprache, Ableitung und Bedeutung des Wortes herrscht schon unter den muslimischen Gelehrten Uneinigkeit.“[1]
Dennoch kann eine herrschende Meinung festgestellt werden, die auch durch den Koran Unterstützung findet. Zudem kann behauptet werden, dass die unterschiedlichen Bedeutungen, die für das Wort Koran angeführt werden, eigentlich nur Aspekte einer Grundbedeutung darstellen, die bei näherer Betrachtung die vielfältigen Erscheinungsformen des Korans wiedergeben, sodass die Wahl dieses Begriffs eine sehr bewusste Entscheidung nahelegt.
2 Linguistische Bedeutung
Nach der herrschenden Meinung leitet sich das Wort Koran von dem Verbstamm qa-ra-a und bedeutet „lesen, rezitieren, vortragen“. Nehmen wir die Bedeutung lesen, so können wir erstaunlicherweise konstatieren, dass das semantische Feld (Wortfeld) dieses Wortes im Deutschen fast identisch aufgebaut ist. Hier soll daher zunächst einmal die Bedeutungsvielfalt des Wortes lesen gemäß Duden[2] dargelegt werden, sodass es einem einfacheren Verständnis auch des Arabischen dienen soll: Lesen bedeutet:
- etwas Geschriebenes, einen Text mit den Augen und dem Verstand erfassen
- vorlesen, lesend vortragen
- regelmäßig Vorlesungen halten
- in einem bestimmten Stil geschrieben sein und sich entsprechend lesen lassen
- [unter Mühen] ein umfangreiches Werk bis zum Ende lesen
- [Ursprünglich]: zusammentragen, sammeln
Schauen wir uns nun an, was die Quellen uns an Bedeutungen für das Wort Koran liefern:
1) Koran leitet sich von dem Verbstamm qa-ra-a (قرأ) ab, was lesen, rezitieren und vortragen bedeutet.[3]
2) Das Wort Koran hat sich von al-qarā’in (القرائن), dem Plural von qarīna (قرينة) abgeleitet.
3) Das Wort Koran leitet sich von dem Verbstamm qa-ra-na (قَرَنَ) ab.
4) Al-Koran (القرآن) ist der Eigenname der Offenbarung Gottes an den Propheten Muhammad und leitet sich nicht von irgendeinem anderen Wort ab.[4]
5) Das Wort Koran wird nach dem Muster fu’lān (فُعلانْ) gebildet und stammt von dem Wort al-qar‘ (القرْء) ab.
6) Orientalisten wie Schwally, Wellhausen und Horovitz sehen in dem Wort ein syrisches oder jüdisches Lehnwort Keryānī, Kiryānī, indem sie hervorheben, dass kara’a in der Bedeutung „lesen“ nicht echt arabisch sei.[5]
Nach Ibn Aṯīr (gest. 1223) bedeutet „Koran“ ursprünglich „Sammlung“ bzw. „Zusammenschluss“. „Alles, was man demnach zusammengeschlossen bzw. gesammelt hat, hat man auch ‚gelesen‘.“[6] Diese ursprüngliche Bedeutung, die auch das Wort lesen im Deutschen hat, ist eine treffliche Beschreibung des Korans. Denn seine Verse ergeben zusammengeschlossen eine Sure, seine Suren bilden zusammen das Buch sowie das Buch in sich alles existentielle Wissen sammelt: Glaubenswahrheiten, Moral- und Ethiklehre, die Menschheitsgeschichte, die Propheten, das jenseitige Leben, Recht und Gerechtigkeit sowie Gottesdienst und die Beziehung des Menschen zu Gott. Der Koran erhielt nach einer anderen Auffassung, die andere nicht ausschließt, seinen Namen, weil er die Quintessenz aller heiligen Schriften und göttlicher Offenbarungen in sich zusammenträgt. Lesen meint ebenso den Zusammenschluss von Buchstaben, Wörtern und Sätzen während des Rezitierens.
3 Fachspezifische Definitionen
Es gibt verschiedene fachliche Definitionen des Korans. Wir wollen einige der verbreiteten Definitionen anführen und kurz besprechen.
- „Der Koran ist das wunderbare Wort, das dem Propheten Muhammad durch Offenbarung zugekommen, in Buchform geschrieben ist und durch Kollektivüberlieferung (tawātur) tradiert sowie dessen Rezitation ein Gottesdienst darstellt.“
Diese Definition ist zum Teil anachronistisch, da der Koran schon verwendet wurde bevor es in Buchform zusammengebracht oder kollektiv überliefert wurde. Wunderhaftigkeit ist ein Attribut des Korans, muss aber nicht zwangsläufig zu seinem Wesen gehören.
- „Der Koran ist hervorragendes Wort, das dem Propheten Muhammad herabgesandt wurde und die Suren al-Fâtiha bis an-Nâs beinhaltet.“
Auch diese Definition ist nicht unproblematisch, da sie die spätere systematische Verschriftlichung bezeichnet. Über die Reihenfolge der Suren, ob sie denn göttlich oder menschlich sei, gibt es Meinungsunterschiede.
- „Der Koran ist ein heiliges Buch, das die Offenbarungen enthält, die dem Propheten Muhammad zukamen.“
Diese Definition ist weniger problematisch. Das einzige Wort, das stört, ist „ein heiliges Buch“. Denn bevor der Koran in Buchform gebracht wurde, gab es den Koran schon. Hier sei auch angemerkt, dass der Koran in Schriftform bzw. zwischen zwei Deckeln als Muṣhaf (مصحف) bezeichnet wird.
- „Der Koran ist das unerschaffene Wort Gottes, das er durch den Engel Gabriel an den Propheten Muhammad innerhalb von 23 Jahren offenbart hat.“
Diese Definition beinhaltet zusätzliche Informationen über die Offenbarung, die aus islamischer Sicht korrekterweise dazu gehören. Doch der Aspekt der „Unerschaffenheit“ des Korans ist ein Produkt späterer theologischer Auseinandersetzungen.
Wir schlagen daher zwei Definitionen vor, eine kürzere und eine längere:
- Der Koran ist das an den Propheten Muhammad offenbarte Wort Gottes.
In dieser ausreichenden Definition sind der Sender, der Empfänger, die Botschaft und die Art der Kommunikation genannt.
- Der Koran ist das Wort Gottes, das Er über den Engel Gabriel an den Propheten Muhammad im Laufe von etwa 23 Jahren sukzessive offenbarte, damit er ihn den Menschen mitteile.
Abu Zayd führt folgende Definition an, die er von allen Muslimen akzeptiert sieht:
„Der Koran ist die Rede Gottes, die dem Propheten Muhammad in klarem Arabisch über einen Zeitraum von 23 Jahren geoffenbart wurde.“[7]
In dieser Definition sind zwei Aspekte hervorzuheben. Das Arabische als eine Eigenschaft des Korans und der Koran als Rede Gottes. Hier ist das Wort Rede nicht zufällig gewählt worden, denn Abu Zayd ist der Ansicht, dass es offensichtlich ist, dass der Koran zunächst in mündlicher Form übermittelt wurde. Deshalb zieht er auch für qara’a die Bedeutung rezitieren vor.[8]
4 Theologische bzw. teleologische Definitionen
Es gibt auch Definitionen, die über die „technische Definition“ hinausgehen und versuchen den Koran theologisch bzw. metaphysisch zu beschreiben. Hier möchte ich abschließend zwei Beschreibungen des Gelehrten Said Nursi (1877-1960) aus dem Osmanisch-Türkischen übersetzen und anführen.
„Der Koran ist;
- die urewige Übersetzung dieses großen Buches der Schöpfung,
- er ist der ewige Übersetzer der vielfältigsten Sprachen, die die Zeichen der Schöpfung lesen,
- er ist der Kommentator dieses Buches der sichtbaren und unsichtbaren Welt,
- er ist der Entdecker der Namen Gottes als geistige Schätze, die in der Erde und im Himmel verborgen sind,
- er ist der Schlüssel der Wahrheiten, die zwischen den Zeilen der Ereignisse verdeckt sind,
- er ist die Sprache der unsichtbaren Welt in der sichtbaren Welt,
- er ist die Schatzkammer der ewigen Zuwendungen des Allbarmherzigen und der urewigen Ansprachen des Gepriesenen, die aus der unsichtbaren Welt kommen, welche hinter der Fassade dieser sichtbaren Welt liegen,
- er ist die Sonne, das Fundament und der Plan der spirituellen Welt des Islams,
- er ist die heilige Landkarte der jenseitigen Welten,
- er ist das erläuternde Wort, die eindeutige Auslegung, der absolute Beweis, der klare Übersetzer des Wesens, der Eigenschaften, der Namen und der Wesenszüge Gottes,
- er ist der Erzieher der Menschheit,
- er ist das Wasser und das Licht des Islam (Hingabe an Gott) - der großen Menschlichkeit,
- er ist die wahre Weisheit des Menschengeschlechts,
- er ist der wahre Lehrer und Wegweiser, der die Menschheit zur Glückseligkeit führt,
- er ist für die Menschen sowohl ein Gesetzbuch,
- als auch ein Gebetsbuch,
- ein Buch der Weisheit,
- ein Buch des Gottesdienstes,
- ein Buch der Befehle und Empfehlungen,
- ein Buch des Gottesgedenkens,
- ein Buch der Reflexion.
- Er ist das einzige, umfassende heilige Buch, das viele Bücher in sich enthält, die den Menschen für all ihre geistigen Bedürfnisse als Nachschlagwerke dienen können.
- Er ist ein himmlisches Buch und gilt als eine heilige Bibliothek, die je eine Abhandlung für die unterschiedlichen Wege aller Gottesfreunde, der Wahrheitsliebenden, Kenner und Forscher sowie für ihre verschiedenen Methoden bietet, wie es der Lage aller Wege entspricht und jeden Weg beleuchtet, wie es den Zielen jeder Methode angemessen ist und sie auch gestaltet.“[9]
„Weil der Koran vom höchsten Thron, vom größten Namen und von höchster Stufe jedes einzelnen Gottesnamens kommt, ist er
- das Wort Allahs als Herrn aller Welten;
- Ein Erlass Gottes mit dem Ehrentitel Gott allen Seins;
- Eine Ansprache zu Ehren des Schöpfers der Himmel und der Erde;
- Eine Kommunikation hinsichtlich der absoluten Herrschaft;
- Eine urewige Predigt im Namen des allgemeinen Königreiches des Hochgepriesenen;
- Aus der Perspektive der allumfassenden Gnade eine Schrift der Zuwendung des Allbarmherzigen.
- Zur Ehrung der gewaltigen Majestät der Göttlichkeit eine Sammlung der Mitteilungen, an deren Anfängen manchmal Chiffren stehen;
- Ein Heiliges Buch voller Weisheit, das durch die Herabsendung von der Allumfassung des höchsten Namens den allumfassten höchsten Thron beobachtet und überwacht.“[10]
5 Fazit
Aus dieser kurzen Untersuchung geht hervor, dass sowohl das arabische Wort qa-ra-a als auch die deutsche Entsprechung lesen viele Bedeutungen aufweisen, die ein semantisches Feld bilden und miteinander zusammenhängen.
Meines Erachtens können für den Qur’ān die Bedeutungen Lesen bzw. Lesung favorisiert werden. Hierfür sprechen nicht nur linguistische Argumente, sondern auch die Verwendungen im Koran und in der Prophetenpraxis.
Die Ableitungen der Orientalisten aus anderen semitischen Sprachen konnte hier nicht vertieft diskutiert werden, doch ist anzumerken, dass diese Frage eine Grundsatzproblematik darstellt, da die Orientalisten generell arabische Begriffe auf andere Sprachen zurückführen. Wichtiger ist jedoch wie der göttliche Autor das Wort versteht und verwendet und wie die Adressaten es verstanden haben.
Die theologische bzw. teleologische Beschreibung des Korans ist meiner Einsicht zufolge im Laufe der Zeit etwas untergegangen, da die Gelehrten sich zu sehr mit der technischen Bedeutung auseinandergesetzt haben. Deshalb finde ich diesen neuen Ansatz von Said Nursi theologisch gesehen sehr wichtig, da es für die Gläubigen von großer Bedeutung ist welch einen überragenden Sinn es hat, dass der Schöpfer der Himmel mit den Menschen kommuniziert und die Welt, die Er erschuf und permanent neu erschafft, erklärt.
Dieser Kohärenz zwischen Offenbarung und Schöpfung bzw. Religion und Naturwissenschaft kommt vor allem heute eine immense Bedeutung zu, die immer wieder hervorgehoben werden sollte. Dieser Ansatz verdient als koranisch bezeichnen zu werden, da der Koran sich selbst – selbstreferentiell – als eine Ermahnung, Erinnerung und Rechtleitung beschreibt.
6 Verwendete Literatur
Abu Zayd, Nasr Hamid: Gottes Menschenwort. Freiburg: Herder, 2008.
Denffer, Ahmad von: Einführung in die Koranwissenschaften. Karlsruhe: DIDI e.V., 2. Aufl. 2009.
Bobzin, Hartmut: Der Koran - Eine Einführung. München: C. H. Beck, 1999.
Cerrahoğlu, Ismail: Tefsir Usûlü. Ankara: Diyanet Vakfı, 2008.
Nursi, Said: Sözler. Istanbul: Söz Basım, 2005.
Rad, M. Razavi (Hg.): Koranwissenschaften. [O. O.]: Institut für Islamische Bildung e.V., 2003.
Zaidan, Amir: Uluum al-quraan – Einführung in die Quraan-Wissenschaft. Wien: Islamologisches Institut, 2011.
www.duden.de
[1] Frank Buhl in: Enzyklopädie des Islams, B. II, Al-Kor’ān, S. 1139.
[3] Siehe Koran, 75:17-18: „Uns obliegt seine Sammlung und seine Lesung (وَقُرْآن), so folge seiner Lesung (قُرْآن), wenn Wir ihn lesen (lassen) (قَرَأْنَا).
[4] Einige Gelehrte, die diese Position vertreten, lesen das Wort Koran ohne den Buchstaben Hamza ء (= قران).
[5] Vgl. Enzyklopädie des Islams, B. II, Al-Kor’ān, S. 1139.
[6] Razavi Rad: Qur’ânwissenschaften, S. 15.
[7] Abu Zayd: Gottes Menschenwort, S. 125.
[8] Abu Zayd: Gottes Menschenwort, S. 124.
[9] Nursi: Sözler, S. 490-491.
[10] Nursi: Sözler, S. 492.