Die metaphysischen Grundlagen des Opferns (Qurban)

Die Opferung im Islam kann von ihrem Ursprung bis zum heutigen Tage in drei Etappen betrachtet werden:

1- Die Initiative Abrahams, Allah seinen eigenen Sohn, Ismail, zu opfern.

2- Das Verhindern dieses Geschehens durch Allah und die Sendung eines Widders als Opfer anstelle Ismaels. Bei genauer Betrachtung dieses zweiten Schrittes, welcher eine Übertragung darstellt - blieb der Opfernde gleich, während das Opfer wechselte.

3- In der letzten Etappe d. h. in unserer heutigen Anwendung, änderten sowohl der Opfernde als auch das Opfer.

Es ist bekannt, dass das Opfern im Islam mit dem Vorhaben Abrahams, seinen Sohn Ismael zu opfern, begann. Danach änderte Allah diesen Opferungsversuch in die Opferung eines Widders um. Später wurde dies als die Opferung von Schafen fortgeführt, so wie es heute noch gemacht wird.

Bei dieser Verschiebung des Objektes, welche mehrere Übertragungen beinhaltet, treten folgende zu beantwortende Fragen auf:

1- Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen den Beziehungen Vater-Sohn (Abraham und Ismael) und Besitzer-Widder (Abraham und Widder)?

Abraham wählte als Opfer seinen Sohn nicht zufällig. Es ist auch nicht möglich, diese Wahl nur im Zusammenhang mit Liebe zu sehen und zu bewerten (Abraham hatte versprochen, den ihm liebsten Menschen zu opfern). Ein Mensch kann nämlich andere Mitglieder seiner Familie (seine Eltern, seinen Ehepartner,...) genau so sehr lieben wie sein Kind, oder sogar noch mehr als dieses. Deswegen gibt es sicher eine andere Erklärung dafür, dass Abraham ausgerechnet seinen eigenen Sohn auswählte.

Außer der geistigen (manevi)[1] Bindung, die als „Liebe" bezeichnet wird, besteht zwischen Eltern und Kind auch eine starke materielle Bindung. So ist das Kind ein Resultat des materiellen Daseins der Eltern und wiederum ihr materieller und geistlicher Nachfolger. Unter diesen Voraussetzungen bedeutet die Bereitschaft der Eltern, ihr Kind - welches die Fortsetzung ihres eigenen geistigen Daseins ist - als Opfer darzubieten, dass sie gewissermaßen einwilligen, sich selbst bzw. die Essenz ihres eigenes Daseins zu opfern.

Zwischen dem Widder und seinem Eigentümer bestehen genau dieselben Beziehungen. Das Schaf wird gegen einen materiellen Wert, d. h. Geld, gekauft und geschlachtet, und das Fleisch wird dann unter den Armen, den Bedürftigen, Freunden und Bekannten verteilt. Dass ein Mensch bereit ist, gegen Geld - welches durch Aufwendung von Zeit und Mühe ein Teil seines Lebens geworden ist - ein Schaf zu kaufen und zu schlachten, bedeutet, dass er bereit ist, sein eigenes Kind zu opfern - welches durch Aufwendung von Zeit und Mühe ein Teil seines Daseins geworden ist - also kurz gesagt ist er bereit, sich selbst als Opfer darzubringen. Wiederum hat der Mensch auch neben der materiellen Bindung auch eine geistige Bindung - eine Bindung der Liebe - zu Geld, das er durch Opferung eines Teils seines Daseins verdient hat. Somit steht Geld gleichzeitig für einen Teil seines Lebens. Anders gesagt, genauso wie sein Kind, ist es ein Bestandteil seiner materiellen und geistigen Seiten und nach seinem Tod, wird es, gut oder schlecht, wie ein Kind, sein Nachfolger und Erbe werden. Deswegen wird das Vorhaben Abrahams, seinen Sohn Ismael zu opfern, bei uns als das Opfern von Schafen fortgeführt, welche wir durch hart erarbeitetes, gerecht verdientes (halal) Geld kaufen.

2-   In welcher Hinsicht sind sich die Beziehungen Abraham-Sohn und Gläubiger-Schaf ähnlich, und in welcher Hinsicht sind sie gleich?

Der Ausgangspunkt des Versuches Abrahams seinen Sohn Ismael zu opfern war Gottesliebe. Es war die Widerspiegelung und Manifestation der Gottesliebe in Abraham. Das Opfern, welches durch Gottesliebe begann, wird bei uns als Zuwendung, aus Gottesliebe fortgeführt.

Der Versuch Abrahams, seinen Sohn Ismael zu opfern oder unser Bestreben, Schafe zu opfern, beide Handlungen gehören der geistigen Dimension an und teilen die Liebe in verschiedene Stufen auf. Allah beabsichtigt mit der Geschichte Abrahams, den Menschen zu erzählen, dass Seine Liebe ihnen Freude und Frieden bringen wird und allein Seine Liebe sie aus dem Abgrund und Elend, in die sie gefallen sind, retten wird.

Der Ausgangspunkt des Vorgehens Abrahams, seinen Sohn Ismael zu opfern, war seine Liebe zu Allah, welche er durch seine Vollkommenheit empfand. Deswegen war die Opferung seines Kindes nicht notwendig, und durch dieselbe Liebe wurde die Rettung vollzogen; die Rettung war der Ausdruck dieser Liebe. Bei uns wiederum ist es nicht anders. Unsere Handlung ist das Bemühen, für uns wichtige "Lieben", wertvolles Gut wie Geld, Besitz und Eigentum, zu opfern, und somit diese Lieben zweiten oder dritten Grades der idealen, göttlichen Liebe zu opfern, um dieser würdig zu sein. Dies zeigt, dass alle Formen der Liebe - egal wie weit entfernt sie von dieser sind, durch Bemühung, Arbeit und Opferbereitschaft, sich in die höchste Form der Liebe, in die ideale Liebe, also Gottesliebe, umwandeln können. Allah bedarf des Blutes oder Fleisches der Tiere, die wir opfern, nicht. Die Opfer besitzen keinen Wert, außer dass sie unsere Liebe und unsere Beziehung zu Allah festigen.

Das Schaf ist, sowohl in seinem Dasein als auch durch das Geld, mit dem es gekauft wurde, etwas Materielles, es repräsentiert Materie.

1- Es ist Materie, hinsichtlich der Energie-Kraft, die wir aufgewendet haben, um das Geld zu verdienen, mit dem wir das Schaf gekauft haben.

2- Es ist Materie, hinsichtlich des „Geldes", das wir gegen Energie verdient haben und welches wir zum Kauf ausgeben müssen.

3- Und letztlich ist es Materie durch sein Dasein. Also ist unser Opfern von Tieren für Allah während des Opferfestes nichts anderes als das ganzheitliche Aufopfern des Schafes/der Materie (welches drei verschiede Zustände der Materie verkörpert, nämlich Energie-Geld-Dasein) für das Erlangen der Zustimmung Allahs, für den Sinn.

Genau betrachtet ist es Gottesliebe, welche die potenzielle Energie zu Bewegung bringt und diese lenkt. Stellen wir uns jemanden vor, der Fleisch essen möchte, ein Schaf kauft, es schlachtet und isst. Hier ist der Ausgangspunkt, nämlich das Bedürfnis für Fleisch, ein physiologisches (den menschlichen Körper betreffendes) Bedürfnis, also ein materielles Bedürfnis. Dieses Bedürfnis wurde durch das Schlachten und Essen befriedigt. Beim Opfern ist dies jedoch nicht so. Der Anfang und das Ende der Opferhandlung sind nicht materiell, sondern immateriell. Das Opfern von Materie zugunsten der Bedeutung ist viel bedeutungsvoller als man denkt. In vorislamischer Zeit hatten die Götzenanbeter ihre Opfer zu Füßen ihrer Götzen geschlachtet. Dadurch richteten sich beide -Opfertier wie Götzenbild -, als Repräsentanten der Materie, an die fünf Sinne dieser Menschen. Die Polytheisten, welche diese Opferhandlungen durchführten, sahen jedoch nichts Besonderes darin, das Opfer, welches etwas Materielles ist, an die Götzen - welche auch materielle Gegenstände sind - zu opfern, da für sie Materie in verschiedene Stufen, in Hierarchien aufgeteilt war. Mit dem Islam erfolgte die schlagartige Befreiung von der Materie und die Menschen konnten die engen Grenzen des Materiellen plötzlich überschreiten.

Lange vor dem Islam, vor Tausenden von Jahren, waren es Abraham und sein Sohn Ismael, die ein erschütterndes Beispiel von Hingabe zeigten und den größten Beitrag zur Befreiung der Menschen aus den engen Grenzen und festen Formen der Materie leisteten und eine gedankliche sowie geistige Neuorientierung einleiteten. Diese Opferbereitschaft befreite die Menschen aus dem engen Blickwinkel der visuellen Wahrnehmung und ermutigte sie, größere Welten und andere Dimensionen zu suchen. Dies wiederum war der Kern für viele neuer Erfindungen, Entdeckungen und für den Beginn der modernen Wissenschaft.

Der Vorrang der Bedeutung vor dem Materiellen, vor der Handlung selbst, ist auch beim rituellen Gebet (Salah / türk. Namaz) gegenwärtig. Es ist die Verbeugung des Kopfes, Symbol der Materie, vor Allah, der größten Bedeutung, dem vollkommenen Sinn. Deswegen kann ein Außenstehender diese Handlung ohne eine Erklärung nicht verstehen. Es gibt nämlich nichts, wirklich gar nichts Materielles vor dem sich der Mensch im Gebet niedergeworfen hat. Ein betender Muslim kann sich jedoch vor dem Wesen, das er nicht sieht, an das er aber glaubt, in aller Ruhe verbeugen und niederwerfen. Und natürlich empfindet er dies nicht als unangebracht, sondern als vollkommen normal. Dies zeigt sehr gut, wie sehr jeder - seien es Gelehrte oder Ungebildete - diese metaphysischen Fragen verstehen.

Die Opferung hat für das Volk auch weitere Aspekte. So können die Nachbarn und die Armen das Fleisch und die Wolle brauchen. Nimmt man diesen Umstand, welchen man auf den ersten Blick unterschätzen könnte, ernst und macht ein paar Berechnungen, so kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Dieses kleine Beispiel zeigt, dass göttliche Liebe überall und für jeden nur Gutes bringt. Niemand, der aus Appetit auf Fleisch ein Schaf geschlachtet hat, verzichtet auf einen Teil dieses Fleisches, um es den Armen zu verteilen. Sein Ausgangspunkt ist ein körperliches Bedürfnis. Der Ausgangspunkt einer Person, welche am Opferfest ein Tier schlachtet, ist jedoch die Liebe zu Gott.

Stellen wir uns einen Muslim vor, der sich mit sehr viel Mühe seinen Monatslohn erarbeitet und für das Opferfest mit der Hälfte des Geldes ein Schaf kauft und dieses opfert. Natürlich wird diese Person das geschlachtete Fleisch in drei Teile aufteilen; ein Teil für seine Kinder und seine Frau, ein Teil für seine Verwandten und Nachbarn und ein Teil für die Armen. Da er das Schaf für einen halben Monatslohn gekauft hat, werden ein Drittel dieses halben Monatslohnes an seine Kinder und seine Frau, ein Drittel an seine Verwandten und Nachbarn und ein Drittel an die Armen verteilt. Es ist bemerkenswert, dass diese Person nur für das Fleisch, welches sie ihren Verwandten gegeben hat, fünf Tage lang von morgens bis abends gearbeitet und es sich so verdient hat. Diese fleißige Person, die das Fleisch des mit dem hart erarbeiteten Geld gekauften Schafes an seine Verwandten verteilt hat, hat sich ihrer erinnert, ihnen gegenüber seine Liebe und Verbundenheit bewiesen, und letztlich hat sie diese besucht. Im Islam beinhaltet der Verwandtenbesuch (Sila al-Rahim), eine wichtige Stellung. Hier ist augenscheinlich, dass sowohl die Person die ihre Verwandten besucht, als auch diejenige, die ihnen Opferfleisch abgibt, ihren Verwandten im Grunde genommen dasselbe gegeben haben; d. h., sie haben sich derer erinnert.

Letztlich kann man sagen, dass die Person, die für einen halben Monatslohn ein Schaf gekauft und einen Drittel davon seinen Verwandten geschenkt hat, ihnen fünf Tage seines Lebens in Form von Zeit und Energie gewidmet, ihnen aufgeopfert hat; ihnen also etwas von ihrem eigenen Dasein gegeben hat. Dadurch hat sich der Gläubige an seine Verwandten erinnert, sie besucht und ihnen gezeigt, dass er ihnen im Notfall zur Seite stehen und für sie ein Opfer bringen wird.

In Bezug auf das letzte Drittel Opferfleisch, welches an die Armen verteilt wird, ist ersichtlich, dass der Gläubige, wie oben beschrieben, ganze fünf Tage seines Lebens diesen Armen gewidmet, ihnen geopfert hat. Menschen können Geschöpfe, denen sie dienen, nicht herabwürdigen. Sie können es nicht; auch wenn sie es wollten, würden sie es nicht schaffen. Das Dienen führt nämlich zur Liebe, nicht zum leeren Stolz. Außerdem ist dieses Fleisch, das an die Armen verteilt wird, ein Nahrungsmittel; es trägt zu ihrer Ernährung bei und erleichtert ihren Alltag.

Diese Beispiele zeigen, dass das Opfern mehrere positive Wirkungen hat.

Dass diese Opferung nicht beliebig, sondern an genau festgelegten Tagen vollzogen wird, zeigt, genauso wie die anderen Gebetshandlungen, dass Einheit unter den Muslimen und das Beisammensein auch bei diesem Gebet sehr wichtig sind.

Der Islam befiehlt uns ständiges Mitgefühl und Barmherzigkeit gegenüber allen Lebewesen. Das Opferfest lehrt uns Mitgefühl und Barmherzigkeit. Dies zeigt uns klar und deutlich, dass lebendige, ja sogar tote Geschöpfe so viel wert sind wie ihre Bestimmung / Bedeutung. Sei es für das Fleisch oder als Opfer, Schafe werden in beiden Fällen geschlachtet. Was die eine Handlung wertvoller macht als die andere ist der Zweck der Schlachtung. Dieser Zweck entspringt nicht dem Schaf als solches. Im Gegenteil, wenn die Absicht der Menschen in Bezug auf die Schafe zu so großen Unterschieden führt, ist augenscheinlich, welchen Unterschied diese Absicht für die Menschen selbst bedeutet. Ausgehend vom Beispiel dieses Schafes sollten wir unsere Absichten überprüfen und versuchen, sie in ihre perfekte Form zu bringen.

http://derletzteprophet.info/die-metaphysischen-grundlagen-des-opferns-qurban (01.09.13)

 

[1] „Geistig" wird hier aus Mangel eines passenderen Ausdruckes gebraucht. "Manevi" kann geistig, ideell, moralisch bedeuten. Hier wurde "manevi" im Gegensatz zu materiell benutzt. "Mana" kommt aus dem Arabischen und heisst Bedeutung - deswegen kann hier manevi auch als die Dimension des Sinnes, der Bedeutung im Gegensatz zu allem Materiellen verstanden werden.