Seelsorge für die Kranken

Eine Salbe, ein Trost, ein geistiges Rezept, ein Besuch und ein Genesungswunsch…

 „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers“[1]

Wenn sie ein Unglück trifft, sagen sie: „Von Allah kommen wir und zu Ihm kehren wir wieder zurück.“ (Koran, 2:156)

„Er gibt mir Essen und Trinken. Und wenn ich krank bin, ist es Er, Der mich heilt!“ (Koran, 26:79-80)

1.1Erstes Heilmittel: Krankheit bringt reichlichen Ertrag

Oh du hilfloser Kranker! Mach Dir kein Sorgen! Hab Geduld!

Deine Krankheit ist kein Grund zur Kummer, sondern eine Rettung. Denn das Leben ist ein vergängliches Kapital. Hat es keine Früchte, wird es vergehen. Ein Leben in Wohlstand und Achtlosigkeit vergeht noch schneller. Die Krankheit bringt deinem Kapital reichlichen Ertrag und verhindert, dass das Leben schnell vergeht. Das Leben wird quasi verlängert bis es seine Früchte erbringt. Wohl aus diesem Grunde sagt das Volksmund: „Die Zeit des Unglücks währt lange, während die Zeit der Freude schnell abläuft.“

1.2Zweites Heilmittel: Krankheit ist ein Gottesdienst

Oh du ungeduldiger Kranker! Sei geduldig und sogar dankbar!

Deine Krankheit besitzt das Potenzial jede Minute deines Lebens in eine Stunde des Gottesdienstes umzuwandeln. Denn es gibt zwei Arten des Gottesdienstes (ibâda): die ‚positive‘ wie das Gebet und das Bittgebet sowie die ‚negative‘ wie Krankheit und Unglück, die dem Betroffenen seine Ohnmacht und Schwäche fühlen lassen, sodass er sich dem Allbarmherzigen Schöpfer zuwendet und Ihn anfleht und so zu einem aufrichtigen, reinen und geistigen Gottesdienst gelangen kann.

Authentische Überlieferungen berichten davon, dass ein Leben in Krankheit – ohne dabei Gott anzuklagen – für den Gläubigen als ein Gottesdienst gilt.[2] Es ist ebenso authentisch überliefert und offengelegt, dass eine Minute Krankheit von geduldigen und dankbaren Kranken als eine Stunde, von vollkommenen Menschen sogar wie ein Tag, im Gottesdienst bewertet wird.

Beklage dich nicht, sondern sei dafür dankbar, dass deine Krankheit dir eine Minute des Lebens zu Tausend Minuten aufwertet und dir ein langes Leben schenkt.

1.3Drittes Heilmittel: Die Krankheit ist ein Ratgeber

Oh du reizbarer Kranker!

Der Mensch ist nicht auf dieser Welt, um nach Lust und Laune zu leben.[3] Das ständige Kommen und Gehen, das Altwerden der Jugend sowie das Vergehen und die Trennung legen ein Zeugnis davon ab. Der Mensch ist der vollkommenste, erhabenste und reichste aller Lebewesen, er gilt sogar als die Krone der Schöpfung.[4] Dennoch lebt er ein trauriges und kummervolles Leben auf einer Stufe, niedriger als das Tier, weil er ständig über vergangene Freuden und künftige Sorgen nachdenkt. Diese Tatsache lehrt uns, dass der Mensch nicht auf die Erde kam, um ein Leben in Gemütlichkeit, Bequemlichkeit und Behaglichkeit zu verbringen.  Vielmehr ist der Mensch, der im Besitz eines gewaltigen Kapitals ist, gesandt, um hier mit seinem ‚Handel‘ und ‚Wandel‘ ein Leben in ewiger Glückseligkeit zu gewinnen.[5] Das Kapital, das ihm gegeben wurde, ist das Leben.

Gäbe es keine Krankheit, würden die Gesundheit und das Wohlbefinden die Welt angenehm erscheinen lassen und der Tod, das Grab sowie das Jenseits würden in Vergessenheit geraten. Das Kapital des Lebens wäre verschwendet. Die Krankheit jedoch öffnet urplötzlich die Augen und spricht zu unserem Körper: „Du bist nicht unsterblich! Du bist nicht ungebunden! Du hast eine Aufgabe! Lass‘ deinen Stolz! Denk‘ an deinen Schöpfer! Wisse, dass du in das Grab hineingehen wirst! Mach dementsprechend deine Vorbereitung!“[6]

Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Krankheit ein absolut ehrlicher Ratgeber und ein mahnender Lehrer. Sie ist nicht zu beklagen, vielmehr ist ihr in dieser Hinsicht zu danken. Ist sie schwer zu ertragen, sollte man um Geduld bitten.

1.4Viertes Heilmittel: Der Mensch hat kein Recht auf Anklage

Oh du anklagender Kranker!

Du hast kein Recht anzuklagen, sondern nur dankbar und geduldig zu sein, da dein Körper und deine Organe nicht dein Eigentum sind. Weder hast du sie selbst hergestellt noch in irgendeiner Werkstatt eingekauft. Das heißt, sie sind Eigentum eines Anderen. Ihr Eigentümer hat das Recht über sie nach Belieben zu verfügen.[7]

Stell dir zum Beispiel einen sehr reichen und hochbegabten Künstler vor. Dieser stellt eine einfache Person gegen Honorar für eine Stunde als Modell ein und bekleidet ihn mit einem kunstvollen und modischen Anzug, um seine schöne Kunst und sein reiches Vermögen zu zeigen. Dabei modelliert und probiert er verschiedene Formen. Um die Vielfalt seiner künstlerischen Begabung zu präsentieren, verkürzt, verändert, verlängert oder schneidet er. Hat nun dieses bezahlte Modell ein Recht Folgendes zu sagen: „Du machst mir Mühe, du strapazierst mich, indem du mich sitzen und stehen lässt. Du ruinierst meine Schönheit, weil du diesen Anzug verkürzt und schneidest. Du behandelst mich unbarmherzig und unmenschlich.“[8]

Ganz ähnlich wie in diesem Beispiel hat auch der Künstler voll Majestät, oh Kranker, dir einen ‚Anzug‘ - deinen Körper - ausgestattet mit leuchtenden Sinnen wie Augen, Ohren, Verstand und Herz, verliehen. Um dabei die Ornamente Seiner Schönsten Namen (asmâ husnâ)[9] zu manifestieren, lässt er dich verschiedene Zustände und Situationen durchlaufen.

Seinen Namen ‚der Versorger‘ (ar-Razzâk)[10] lernst durch den Hunger kennen, bist du nun krank, so erkenne auch Seinen Namen ‚der Heilende‘ (asch-Schâfi)[11]. Weil Leid und Unglück uns einen Teil Seiner Namen erkennen lassen, finden sich ihnen Funken der Weisheit und Strahlen der Barmherzigkeit, und in diesen Erscheinungen zeigen sich viele Schönheiten. Wäre der Schleier des Verborgenen gelüftet, so würdest du hinter der Krankheit, die du fürchtest und verabscheust, liebevolle und schöne Bedeutungen erblicken.

1.5Fünftes Heilmittel: Krankheit ist eine spirituelle Genesung

Oh du von einer Krankheit befallener Kranker!

Meine Erfahrungen haben mich davon überzeugt, dass in unserer Zeit die Krankheit für einige Menschen eine göttliche Gnade und ein Geschenk der Barmherzigkeit ist. Obwohl ich dessen nicht würdig bin, besuchten mich in den letzten acht-neun Jahren einige junge Menschen, damit ich für die Heilung ihrer Krankheit bete. Dabei ist mir aufgefallen, dass diese Jugendlichen in ihrer Krankheit im Vergleich zu anderen mehr an ihr jenseitiges Leben denken. Sie befinden sich nicht im jugendlichen Rausch und sie können sich bis zu einem gewissen Grad davor bewahren achtlos der tierischen Gelüste zu verfallen. Ich habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass eine Krankheit im Rahmen ihrer Fähigkeit diese zu ertragen, eine göttliche Gnade ist. Ich sagte:

„Mein Bruder, ich bin nicht gegen deine Krankheit. Du tust mir ja nicht Leid wegen deiner Krankheit, sodass ich für dich beten müsste. Übe dich in Geduld, bis dir die Krankheit zur Erweckung verhilft. Und wenn die Krankheit ihren Zweck erfüllt hat, wird dir der Schöpfer in Seiner Barmherzigkeit Genesung schenken. Ein Teil deiner Altersgenossen sind in ihrer Gesundheit der Achtlosigkeit (ghafla) verfallen. Sie haben das Gebet verlassen und Gott sowie das Grab vergessen. Sie ruinieren ihr ewiges Leben wegen einer vergänglichen oberflächlichen Lust des irdischen Lebens. Deine Krankheit aber öffnet dir die Augen, sodass du deine künftige Wohnstatt, das Grab, und darüber hinaus auch die jenseitigen Wohnstätten siehst und dich dementsprechend verhältst. Das heißt, für dich ist deine Krankheit die Gesundheit, während die Gesundheit bei einigen deiner Freunde einer Krankheit gleich kommt.“

1.6Sechstes Heilmittel:

1.6.1Erster Teil: Leid und Freude

Oh du Kranker, der die Schmerzen beklagt!

Ich bitte dich: Denk einmal über dein vergangenes Leben nach, an die glücklichen oder unglücklichen Tage, was wirst du empfinden oder sagen? Du wirst entweder dankbar sein und ‚Dank sei Gott‘ sprechen oder aber voller Bedauern und Kummer „schade und wehe“ sagen.

Achte darauf! Was dich ‚Dank sei Gott‘ sprechen lässt, sind die Erinnerungen an die vergangenen Schmerzen und Unglücke, die nun vorüber sind und eine Art geistige Freude hinterlassen, sodass du innerlich dankbar bist. Denn das Ende der Schmerzen ist Freude. Diese Schmerzen und Unglücke haben wohl im Geiste etwas hinterlassen, das beim Nachdenken darüber, die Seele erfreut und dankbar werden lässt.

Was dich hingegen „schade und wehe“ sagen lässt, sind vergangene Freuden, die durch ihr Vergehen in deiner Seele einen bleibenden Schmerz hinterlassen haben, sodass jede Erinnerung daran dich mit Kummer und Sehnsucht erfüllt.

Eine unerlaubte Freude eines Tages kann zuweilen geistige Schmerzen eines Jahres verursachen.

Die Schmerzen hingegen, die eine vorübergehende Krankheit vom einem Tag zufügt, bringen viele Tage seelischer Freuden und jenseitigen Lohn sowie die Freude bei ihrer Überwindung mit sich. Denke also an das Ergebnis und den jenseitigen Lohn hinter der vergänglichen Krankheit. Sag doch einfach „Mein Gott! Das wird schon!“ und sei dankbar, anstatt dich zu beklagen.

1.6.2Zweiter Teil: Die irdischen Freuden

Oh Bruder, der du an die irdischen Freuden denkst und unter deiner Krankheit leidest!

Wäre diese Welt unvergänglich, gäbe es keinen Tod auf unserem Weg, wüteten nicht die Stürme der Trennung und des Vergehens und brächte das Winter der leidvollen und turbulenten Zukunft nicht herein, würde auch ich deinen Zustand bemitleiden. Doch weil die Welt uns eines Tages auffordern wird, sie zu verlassen und ihre Ohren vor unserem Geschrei verschließen wird, sollten wir die Warnungen der Krankheit beachten und sie aus unserem Herzen verbannen, bevor sie uns ausstößt.

Die Krankheit erinnert dich daran und flüstert folgende Worte in dein Herz: „Dein Körper besteht nicht aus Stein und Eisen, sondern aus unterschiedlichen Stoffen, die jeder Zeit drohen auseinanderzufallen. Lass‘ deinen Stolz und begreife deine Schwäche! Erkenne deinen Eigentümer, wisse, warum du auf diese Welt gekommen bist und was deine Aufgabe ist!“

Die Freuden und das Vergnügen dieser Welt sind vergänglich. Wenn sie unerlaubt sind, sind sie auch noch voller Schmerzen und Sünden. Weine also nicht, weil du diese Freuden aufgrund deiner Krankheit nicht genießen kannst. Im Gegenteil, versuche darin Freude zu finden, dass du die Krankheit als ein Gottesdienst betrachten kannst und auf jenseitigen Lohn hoffen darfst.

1.7Siebtes Heilmittel: Gesundheit schätzen wir durch die Krankheit

Oh du Kranker, der du die Freude der Gesundheit verloren hast!

Deine Krankheit nimmt dir nicht die Freude der Gottesgabe der Gesundheit, sondern lässt es empfinden und verstärken. Denn etwas Ununterbrochenes verliert mit der Zeit an Wirkung. Die Kenner der Wahrheit sagen sogar übereinstimmend:

Die Dinge erkennt man anhand ihrer Gegensätze.[12]

Zum Beispiel: Gäbe es nicht die Dunkelheit, würden wir das Licht nicht erkennen und uns daran erfreuen. Ohne Kälte würden wir nicht verstehen, was die Wärme bedeutet und wie behaglich sie wirkt. Ohne Hunger würde uns das Essen nicht besonderen Genuss bescheren. Ohne Durst wäre das Trinken nicht erfrischend. Ohne Unannehmlichkeit wäre Wohlbefinden nicht nachvollziehbar. Und genauso hätten wir ohne Krankheit keine Wertschätzung für die Gesundheit.

Der allweise Schöpfer möchte, dass der Mensch jede Art Seiner Gabe erkennt und erfährt. Er hat er ihn so ausgestattet, dass er auf dieser Erde allerlei Arten von Gnadengaben schmecken und erkennen kann. Deshalb hat Er neben Gesundheit und Wohlbefinden, auch Krankheit und Unannehmlichkeit gegeben. Ich frage dich nun: Wäre diese Krankheit nicht in deinem Kopf, deiner Hand oder deinem Magen, würde ihr gesunder Zustand dir Freude bereiten und würdest du den Genuss an der göttlichen Gabe empfinden und dankbar sein? Höchstwahrscheinlich wärst du nicht dankbar, du würdest nicht einmal daran denken. Du würdest deine Gesundheit achtlos und leichtsinnig verschwenden.

1.8Achtes Heilmittel: Krankheiten sind eine Sühne für die Sünden

Oh du Kranker, der du an das Jenseits denkst!

Die Krankheit reinigt und wäscht den Schmutz der Sünden gleich einer Seife. Krankheiten gelten gemäß einem authentischen Hadîth[13] als eine Sühne für begangene Sünden. In einem anderen Hadîth wird Folgendes mitgeteilt:

So wie die Früchte eines Baumes durch das Schütteln herunterfallen, so fallen auch von einem Gläubigen seine Sünden ab, wenn er von einer Krankheit geschüttelt wird.[14]

Sünden sind selbst im ewigen Leben fortdauernde Krankheiten; selbst für das diesseitige Leben sind sie eine metaphysische Krankheit für das Herz, den Geist und das Gewissen. Wenn du aber geduldig bist und dich nicht beklagst, wird deine vergängliche Krankheit vieler deiner ewigen ‚Krankheiten‘ heilen. Wenn du dich deinen Sünden gegenüber gleichgültig verhältst oder du das Jenseits nicht kennst oder Gott nicht (an)erkennst, dann wehe dir, du hast solch eine furchterregende Krankheit, die millionenfach größer ist als deine kleine materielle Krankheit; ihretwegen solltest du wehklagen! Dein Herz, dein Geist und deine Seele stehen mit der gesamten Existenz in einer Beziehung und Verbindung. Doch immer wieder werden diese Verbindungen durch Trennung und Vergehen abgebrochen, sodass sie in dir tiefe Wunden schlagen. Weil du das Jenseits kennst und dir den Tod als ewiges Erlöschen vorstellst, ist es so, als hättest du einen kranken Körper voller Wunden so groß wie die gesamte Welt.

Wenn du diesen großen imaginären Körper, der von zahllosen Wunden geplagt wird, heilen willst, dann solltest du die absolut und definitiv heilende Medizin, d. h. den Glauben suchen und deine Weltanschauung in Ordnung bringen. Der kürzeste Weg diese Medizin aufzufinden ist die materielle Krankheit, welche die Schleier der Achtlosigkeit zu zerreißen vermag und dich im Horizont der eigenen Ohnmacht und Schwäche die Allmacht und Barmherzigkeit eines majestätisch Allmächtigen erkennen lässt.

Wer Gott nicht kennt, ist in einer Welt voll von Unglück. Wer Gott kennt, ist in einer Welt voll von Licht und geistigem Glück, welches er entsprechend seines Glaubens fühlen kann. Angesichts des auf dem Glauben beruhenden geistigen Glücks, der Medizin und der Freude, verringert sich das Leid der materiellen Krankheit.

 

[1] Koran, 1:1.

[2] Mandhari: At-Targhib wa-t-Tarhib, 4:274, 286-302; Al-Fath al-Kabir, 2:148; Irwa al-Ghalil, S. 553; Tabarani: Mu’dscham al-Ausat, 5:357 (4706), 9:277 (8604).

[3] Koran, 21:16-17.

[4] Koran, 17:70; 95:4.

[5] Koran, 9:111, 67:2.

[6] Koran, 59:18.

[7] Koran, 3:26.

[8] Vgl. Worte, S. 844; Briefe, S. 527.

[9] Koran, 59:24.

[10] Koran, 11:6; 51:58.

[11] Koran, 26:80.

[12] اِنَّمَا اْلاَشْيَاۤءُ تُعْرَفُ بِاَضْدَادِهَا

[13] Muslim: Sahih, 4:1991-1993; Bukhari: Marda 1; Muslim: Birr: 14.

[14] Bukhari: Marda: 2, 3, 13, 14, 16; Muslim: Birr: 14 (45).